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Gekürzte Fassung des Rundschreibens vom März 2019

Themenübersicht


Liebe Ballettfreunde,

nun ist es endgültig. Unsere langjährige, unermüdliche Mitarbeiterin Renate Dreher hat sich wohlverdient von ihrer Arbeit verabschiedet, und wir Mitglieder wie auch der Vorstand bleiben zurück – traurig. Wir müssen uns nun neu orientieren, was wir ja auch zurzeit tun, um den Verein vorwärts zu bringen. Noch fällt es uns schwer, ohne Frau Dreher zurechtzukommen. Es wird bestimmt einige Anfangspannen geben, aber Frau Fischer und Frau Fürst sind mit vollem Elan dabei und werden ihr Bestes geben. Neu in der Runde ist auch Herr Dr. Bernd Löwer, der sich bereit erklärt hat, die komplizierte Aufgabe des Kartenservices von Herrn Dr. Böttcher zu übernehmen. Dieser geht auch in den Ruhestand. Wir werden für seinen Einsatz stets dankbar sein. Frau Dreher als auch Herr Dr. Böttcher bleiben weiterhin Mitglied und stehen unseren „Neuen“ auch zukünftig zur Seite.

Auf unserer Mitgliederversammlung am 28. Februar 2019 wurde Herr Udo Rüter als Nachfolger von Herrn Dr. Böttcher einstimmig zum neuen Kassenwart in den Vorstand gewählt. Frau Dr. Regerbis und ich sind auch wieder einstimmig als Vorstandsmitglieder bestätigt worden, sie als Schriftführerin und ich als Erste Vorsitzende. Das Protokoll zur Mitgliederversammlung erhalten Sie mit dem Juli-Rundschreiben.

Die angekündigte Tagesfahrt nach Schwerin zu „Andy Superstar" muss leider entfallen, da der Termin mit der Bühnenprobe zu „Shakespeare – Sonette“ kollidiert. Am Donnerstag, dem 13. Juni 2019 um 10 Uhr, sind wir zur Bühnenprobe in die Hamburgische Staatsoper eingeladen.

Die letzte Februarwoche stand ganz im Zeichen von John Neumeiers 80. Geburtstag. Eine wahrhaft rauschende, flotte Gala zu diesem Anlass fand am 24. Februar in der Hamburgischen Staatsoper statt. Der Held des Tages, John Neumeier, bestens gelaunt und „younger than ever", stand selbst mit auf der Bühne, in lässigem Look – weißes Hemd, weiße Hose und lose gebundene schwarze Krawatte – aus „Bernstein Dances“. Frau Fischer berichtet darüber in diesem Rundschreiben. Mir war die Ehre zuteil, am anschließenden großen Gala-Diner im Hotel „Vier Jahreszeiten" teilzunehmen.

Sehr anrührend und persönlich gestaltete sich am Montag, dem 25. Februar, die Ehrung für den Jubilar in der Ballettschule. Gigi Hyatt stellte mit ihren Kolleginnen eine Collage von 80 Tänzen aus Neumeiers Balletten zusammen. Der Ablauf mit den vielen Schülern verlief wie am Schnürchen und machte selbst den Meister sprachlos. Als Geburtstagsständchen brachten fünf Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters das Quintett von Gabriel Fauré. Das ganze Haus der Ballettschule war für alle Eingeladenen geöffnet und auf jeder Etage gab es noch gesonderte Veranstaltungen. Auch für das leibliche Wohl der Gäste war gesorgt. Alles zusammen ein großer Nachmittag in der Welt John Neumeiers!

Und dann noch: An eben diesem Abend trat ein Teil der Schüler im Ernst Deutsch Theater in der „Werkstatt der Kreativität" auf. Welch’ eine Leistung! Auch darüber berichtet Frau Fischer.

Für heute viele Grüße, Ihre

Ihre Marjetta Schmitz-Esser

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Premiere „Shakespeare – Sonette“

Ein Ballettabend von Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov

John Neumeier vertraut den drei jungen Choreografen Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov die künstlerische Gestaltung der prestigeträchtigen Sommerpremiere zum Auftakt der 45. Hamburger Ballett-Tage an. Die Umstellung des Spielplans erläutert er wie folgt: „In diesem Jahr war es leider nicht möglich, einen Termin für das Format der ‚Jungen Choreografen’ in irgendeinem Theater zu finden, der mit unserem Spielplan vereinbar wäre. Daher habe ich entschieden, dass die zweite Premiere nicht von mir selbst, sondern von drei Jungen Choreografen bestritten wird, deren Kreationen der vergangenen Jahre eine markante Entwicklung aufweisen: Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov. Der gemeinsam gestaltete Abend wird als verbindendes Thema die Sonette von William Shakespeare aufgreifen."

Musik: David Lang, Claudio Monteverdi, Henry Purcell, Jordi Savall?Choreografie, Bühnenbild und Kostüme: Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov?

Seit seiner ersten Spielzeit in Hamburg ermutigt John Neumeier die Tänzer seiner Compagnie, als „Junge Choreografen" Ballette mit Kollegen auf die Bühne zu bringen. Dieses Format hat in den letzten Jahren zunehmend an Gewicht gewonnen und war in Abständen auch auf der großen Bühne der Hamburgischen Staatsoper vertreten: 2005 feierte das Programm „Schritte in die Zukunft" von Jirí Bubenícek, Marco Goecke, Christopher Wheeldon und Yukichi Hattori Premiere, 2012 folgte der Ballettabend „Renku" von Orkan Dann und Yuka Oishi. Zuletzt ersetzte 2016 das Programm „Aspekte der Kreativität" das übliche Gastspiel im Rahmen der Hamburger Ballett-Tage.

[Dagmar Ellen Fischer]

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Werkstatt der Kreativität X

Schon zum zehnten Mal zeigten Studierende der beiden Theaterklassen der „Ballettschule des Hamburg Ballett – John Neumeier“ eigene choreografische Ideen im Ernst Deutsch Theater. Wie in den vergangenen Jahren, waren auch 2019 die zahlreichen kurzen Werke auf zwei Programme verteilt, die an jeweils drei Abenden im renommierten Theater an der Mundsburg zu sehen waren.

Die erste Serie bestand aus 14 Choreografien von 15 Kreativen, ein Werk entstand in Teamwork von zwei angehenden Tänzerinnen aus der vorletzten, der 7. Theaterklasse: Sie entwarfen einen „Tree of Life“ und nutzten Schattenspiele im Tanz. Bemerkenswert auch der Beitrag „Echoes of the Past“, in der vier Paare zu spanischer Volksmusik eine mitreißende Jota zeigten. In „Tierra natal“ ging es um die Frage, alles Vertraute hinter sich zu lassen – für die große Liebe, hier begegneten sich barfuß Tanzende mit Tänzerinnen in Spitzenschuhen. Das Geräusch von Wasser leitete „Heimat“ ein, ein Stück, das sich offensichtlich mit dem Schicksal von Flüchtlingen beschäftigt und das Musik von Pink Floyd mit Text kombiniert, gesprochen vom US-amerikanischen Schauspieler Robert de Niro. Um einen beginnenden Krieg, der Menschen voneinander trennt, geht es in „Thank You“, und „Time“ erzählt in verständlichen Bildern von der hellen Seite des Lebens zu Live-Musik – einer der Choreografen setzte sich ans Klavier: Die Talente der zukünftigen Tänzer sind vielfältig.

[Dagmar Ellen Fischer]

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John Neumeiers „Orphée et Eurydice“

Am 27. Januar fand eine Einführungsmatinee zur bevorstehenden Hamburg-Premiere der Oper „Orphée et Eurydice“ statt: Der Leitende Dramaturg der Oper, Johannes Blum, moderierte und befragte in erster Linie den musikalischen Leiter Alessandro De Marchi; Jörn Rieckhoff, Leiter der Pressestelle des Hamburg Ballett, stellte Fragen an John Neumeier. Auch die beiden Sopranistinnen Andriana Chuchman und Marie-Sophie Pollak, die Eurydice und L’Amour verkörperten, gaben an jenem Sonntagvormittag Kostproben aus dem Werk.

Damals, im Europa des 18. Jahrhunderts zur Zeit der Uraufführung, waren Oper und Ballett wie Bruder und Schwester; einige Jahrzehnte später wurden die Geschwister auseinander gerissen und gingen getrennte künstlerische Wege. Wenn John Neumeier heute eine Oper des Komponisten Christoph Willibald Gluck choreografiert, macht er also nichts anderes, als die alte Verbindung zwischen Verwandten wiederherzustellen. Glucks bekanntes Werk „Orphée et Eurydice“ ging im Jahr 1762 erstmals in Wien über die Bühne. Darin wird musikalisch die traurige Liebesgeschichte zweier griechischer Sagengestalten erzählt: Nach dem Tod seiner Frau Eurydice ist Orphée untröstlich. Seine große Trauer rührt die Götter, und so darf er ausnahmsweise das Totenreich betreten, um die Geliebte ins Diesseits zurückzuholen. Anschauen darf er sie jedoch auf dem gemeinsamen Rückweg nicht – und genau das wird beiden zum Verhängnis …

John Neumeier gestaltete nicht nur die Choreografie, er übernahm erstmals auch die Regie einer Oper und zeichnet für Bühne, Kostüme und Licht verantwortlich. 2017 feierte die Inszenierung in Chicago Premiere, am 3. Februar 2019 wurde sie dann in Hamburg aufgeführt.

Es beginnt mit einem lauten Knall: Ein Kleinwagen rast gegen einen riesigen Kaktus. Als sich der Rauch verzieht, wird klar, dass eine Verkehrstote zu beklagen ist. Eurydice stirbt bei einem Autounfall – nicht an einem Schlangenbiss, wie in der antiken Sage. Der Choreograf holt das Schicksal der Figuren ins Hier und Jetzt: Folgerichtig erhält Orphée auf seinem Mobiltelefon die Nachricht vom Tod seiner Gattin. In Neumeiers Deutung ist der antike Künstler ein Choreograf, Eurydice Solistin in seinen Werken und die dritte wichtige Figur – L’Amour als personifizierte Liebe – wirkt als Regieassistentin, im übertragenen Sinn als inspirierende Kraft. Dem Unfall voraus gegangen war ein Streit zwischen den Eheleuten, der sich auf einer tänzerischen Proben entfachte.

Von Anfang an sind beide Titelrollen doppelt besetzt: Orphée gibt es als Sänger und Tänzer (Dmitry Korchak und Edvin Revazov), Eurydice entsprechend als Sängerin und Tänzerin (Andriana Chuchman und Anna Laudere). Durch John Neumeiers umsichtige Regie begegnen sich die beiden Komponenten Gesang und Tanz auf Augenhöhe, sie konkurrieren nicht miteinander. Getanzt wird vor allem während der Phasen ohne Gesang – und die Oper verfügt über lange Passagen mit Instrumentalmusik. Auf diese Weise können sich die Arien der ungeteilten Aufmerksamkeit des Publikums sicher sein.

Auf dem Weg in die Unterwelt muss Orphée an Cerberus vorbei, dem dreiköpfigen Höllenhund; drei Tänzer verkörpern diese gefährliche Kreatur: Solist Alex Martínez, Ricardo Urbina als Neuzugang aus dem Bundesjugendballett und Gruppentänzer David Rodriguez. Auch die Furien müssen überwunden werden, bevor es ein Wiedersehen der Liebenden geben kann: Acht Paare tanzen die entfesselten Kräfte dieser Rachegötter. Doch der liebeskranke Orphée überwindet sie alle und singt „Meine Tränen bezwingen eure Härte“. Als er endlich am Ziel ankommt, stellt er überrascht fest, dass seine Eurydice keineswegs unglücklich ist, „an diesem Ort der Freude“, wie sie singt. Er findet sie im unterirdischen Reich umringt von acht tanzenden Paaren „Seliger Geister“ – allesamt befreit von quälenden irdischen Leidenschaften. Die kehren indes zurück, sobald sich das erneut vereinte Liebespaar auf den Weg in die reale Welt macht: Eurydice zweifelt an Orphée, der sie – gemäß der Bedingung der Götter – keines Blickes würdigt. Er verliert sie ein zweites Mal …

John Neumeiers Ziel war die Gleichstellung der beteiligten Künste. Tatsächlich sorgen Tänzer, Sänger, der Chor, das Orchester und ein beeindruckendes Bühnenbild für ein gelungenes Gesamtkunstwerk in „Orphée et Eurydice“, das reichlich Applaus in der Hamburgischen Staatsoper erntete.

[Dagmar Ellen Fischer]

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„The World of John Neumeier“ zum 80. Geburtstag am 24. Februar 2019

Am 24. Februar 2019 feierte John Neumeier seinen 80. Geburtstag in Hamburg – gemeinsam mit seinem Publikum! Aus diesem Anlass lud der Chefchoreograf und Ballettintendant zu einer Gala in die Staatsoper, in der er vor ausverkauftem Haus durch „The World of John Neumeier“ führte, wie der Titel versprach.

Ausnahmsweise ging es schon um fünf Uhr nachmittags los. Als John Neumeier die Bühne betrat, sprangen die Zuschauer spontan auf, klatschten Minuten lang Beifall und stimmten ein Geburtstagslied an: „Happy Birthday“ sangen 1.700 Stimmen! Die warmherzige Begrüßung brachte den Jubilar leicht aus dem Konzept, war doch die Gala ansonsten ein präzise choreografiertes Bühnenfest von vier Stunden Dauer mit 15 Ausschnitten aus seiner rund 50-jährigen Schaffensphase.

Die Reise durch John Neumeiers Leben entpuppte sich als sensationeller Tanzrausch mit spektakulären Gaststars! Jede neue Lebensstation erläuterte der Choreograf mit persönlichen Worten: mal per Mikrofon live auf der Bühne, mal aus dem Off – ausnahmsweise immer in englischer Sprache, bevor dann die passenden Beispiele getanzt wurden. Er erinnerte sich, wie alles begann: Als kleiner Junge sah er in einem Kino ein Filmmusical mit Gene Kelly und war fortan mit dem Tanzvirus infiziert; in diesen frühen Eindrücken liegt die Quelle der Inspiration zu Werken wie „Shall We Dance“ und „Bernstein Dances“ – getanzte Leidenschaft gleich zur Eröffnung des Abends zur temperamentvollen Ouvertüre aus Leonard Bernsteins „Candide“. Leider erlaubten die Eltern dem kleinen John zunächst nur Unterricht in Stepptanz, erzählte Neumeier, doch als er nach einer Weile schließlich doch Ballett trainieren durfte, war das für ihn ein Gefühl wie „nach Hause zu kommen“: Endlich konnte er Teil dieser wunderbaren Welt werden – erst Jahrzehnte später schuf er seine Version von „Der Nussknacker“ als Hommage an diese fantastische Tradition des klassischen Tanzes; als Marie strahlte Alina Cojocaru an diesem Geburtstagsabend.

Neben der bekannten Ballerina gaben zahlreiche weitere Solisten international renommierter Compagnien John Neumeier die Ehre – aus Moskau, Toronto, Chicago, London, Kopenhagen und Stuttgart; außerdem glänzten Gaststars wie Roberto Bolle als „Orpheus“ und Alessandra Ferri als „Duse“ mit Szenen aus Neumeiers gleichnamigen Balletten; Leticia Pujol verkörperte die Titelrolle aus „Sylvia“ in einem Pas de deux mit Manuel Legris. Vom Joffrey Ballet waren Victoria Jaiani und Temur Suluashvili angereist, um als „Selige Geister“ aus „Orphée et Eurydice“ zu strahlen. Guillaume Côté und Heather Ogden vom National Ballet of Canada verwandelten sich in Vaslaw Nijinsky und Romola Nijinska und tanzten eine Schlüsselszene aus Neumeiers Ballett über den Jahrhunderttänzer „Nijinsky“. Andreas Kaas und Ida Praetorius (Königlich Dänisches Ballett) verkörperten „Romeo und Julia“, zu diesem Frühwerk wurde John Neumeier durch eigenes Verliebt-Sein inspiriert, wie er dem Publikum gestand. Die beiden Ersten Solisten Alicia Amatriain und Jason Reilly vom Stuttgarter Ballett interpretierten den intimen Pas de deux aus „Othello“ zwischen dem Titelhelden und Desdemona. Vom Ballett des Bolschoi Theaters gastierten Olga Smirnova und Artem Ovcharenko als „Anna Karenina“ und Graf Wronski sowie Svetlana Zakharova als „Die Kameliendame“.

Das Besondere an diesem Abend: Jede einzelne Sequenz ging bruchlos in die nächste über, so dass die Ausschnitte zu einem großen Ganzen emulgierten. Auf diese Weise schritt das Publikum durch John Neumeiers Welt, nur unterbrochen von einer Pause, in der alle auf ein Glas Champagner eingeladen wurden. Der Gefeierte selbst tauchte immer wieder auf der Bühne auf und schien die eigenen Werke staunend zu betrachten. Diese Rolle übernahm alternierend Lloyd Riggins, langjähriger Erster Solist, inzwischen stellvertretender Ballettdirektor. Die Botschaft ist klar: Riggins, der als Neumeiers Alter Ego gleich gekleidet auftrat, ist Neumeiers Wunschkandidat, wenn es um eine mögliche Nachfolge beim Hamburg Ballett ab 2023 geht. Doch bis dahin wird Hamburgs Ehrenbürger und Kulturbotschafter noch weitere Werke aus „The World of John Neumeier“ auf die Bühnen dieser Welt bringen.

Der Erlös aus dem Kartenverkauf dieser in Hamburg einmalig zu erlebenden Aufführung (in Hongkong wird „The World of John Neumeier“ noch gezeigt) betrug 150.000 Euro, der Betrag wird der Stiftung John Neumeier zugute kommen, damit in einer nicht allzu fernen Zukunft John Neumeiers Sammlung zur Ballettgeschichte der Öffentlichkeit in einem Museum zugänglich gemacht werden kann.

[Dagmar Ellen Fischer]

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Ballett-Werkstatt am 10. Februar 2019

Durchnummeriert seit der allerersten Ballett-Werkstatt in Hamburg am 9. September 1973, ergab sich eine beachtliche Zahl: John Neumeier begrüßte sein Publikum an diesem Sonntagmorgen zur 225. Ballett-Werkstatt! In dieser Matinee sprach er über den Ballettabend „All Our Yesterdays“, der zwei seiner Choreografien zusammenfügt und dessen Klammer die Musik Mahlers bildet: „Soldatenlieder“ („Des Knaben Wunderhorn“) und die „Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler“.

In diesem Fall von einer Wiederaufnahme zu sprechen, erscheine ihm nicht zutreffend, denn „alles ist neu, kein Tänzer von damals“ sei dabei, insofern müsse der Abend eigentlich Premiere genannt werden.

Der Choreograf erinnerte sich an die Entstehung der „Fünften Sinfonie“: Seinerzeit kehrte er von einer Tournee nach Hamburg zurück und erlebte das lichtdurchflutete „Nijinsky Studio“ – der Raum verfügt über hohe Fenster auf beiden Seiten – im neuen Ballettzentrum als äußerst inspirierend. Diese Räume mussten eingeweiht, durchtanzt, gefeiert werden, so Neumeier.

Nachdem er vier Sinfonien komponiert hatte, für die er jeweils Programme verfasste, wollte Gustav Mahler seine fünfte pur und unprogrammatisch verstanden wissen, da er sich über die vielen Missverständnisse früherer Deutungen seiner Musik geärgert hatte. Folgerichtig gab er seiner fünften Sinfonie nur poetische Titel, auf dass man sie freier, unvoreingenommener hören möge.

Die Sinfonie für sich genommen indes sei nicht abendfüllend, konstatierte Neumeier, eine Zusammenführung mit „Des Knaben Wunderhorn“ bot sich an. Der Fünften Sinfonie voran gestellt, bekäme diese so „eine Art Vergangenheit“. Außerdem stellte der Choreograf eine Verwandtschaft zwischen beiden Kompositionen fest: „musikalische Zitate in der Fünften Sinfonie aus des Knaben Wunderhorn“. Unter diesem Titel veröffentlichten Clemens Brentano und Achim von Arnim zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Sammlung von Volksliedtexten in drei Bänden. Gustav Mahler veränderte die Texte, als er sie Ende des 19. Jahrhunderts vertonte: „Er arbeitete sie um, denn er wollte nicht den Gehalt der Gedanken in Musik umsetzen, sondern deren Essenz“, erläuterte der Choreograf, nicht zuletzt, um den Interpreten, also in dem Fall den Sängern, die Möglichkeit zu geben, ihre Virtuosität zu zeigen. Vergleichbares gelte ebenso für die Tänzer, und jedes Mal entstehe etwas Neues: Text plus Musik plus Tanz.

„Gustav Mahlers Musik bewegt immer emotional, es entstehen Bilder und Gefühle“, da ist sich John Neumeier sicher. Beispiel: „Das irdische Leben“ erzählt von einer sehr traurigen Begebenheit – ein Kind verhungert, nachdem es immer wieder von der Mutter vertröstet wurde. Mahler sah darin ein Gleichnis auf die Geschichte der Menschheit, im Großen wie im Kleinen geben die Menschen oft ihr Bestes, tun, was sie können, aber oft reicht es eben nicht. Zu diesem Lied, für das Mahler den ursprünglichen Text übrigens kürzte, schuf Neumeier ein Solo, an diesem Vormittag getanzt von Aleix Martínez.

Militärische Klänge sind keine Seltenheit in Gustav Mahlers Musik, der „Tamboursg’sell“ thematisiert beispielsweise das Schicksal eines Soldaten, der hingerichtet werden soll, weil er desertierte. John Neumeier findet auch hier eine Verbindung zum sinfonischen Werk: Im ersten Satz der Fünften Sinfonie zitiert Mahler das Thema des „Tamboursg’sell“. Dieses Vorgehen ist gar nicht unüblich, auch Bach verwendete mitunter von ihm komponierte Musik mehrfach, jeweils mit unterschiedlicher Bedeutung in verschiedenen Zusammenhängen.

John Neumeier verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Ähnlichkeit zwischen dem vierten Satz, dem berühmten „Adagietto“ (seit dem Film „Tod in Venedig“ in aller Ohren) und Mahlers Rückert-Lied mit dem Titel „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Als der Komponist die Fünfte Sinfonie schrieb, lernte er Alma, seine spätere Frau kennen, erzählt Neumeier. Und er erinnerte sich: 1975 schuf er zu eben dieser Musik, dem Adagietto, einen Pas de deux für Natalia Makarova und Erik Bruhn, der nach dem Ende seiner Karriere für diesen Part noch einmal auf die Bühne zurückkehrte. In dieser Ballett-Werkstatt tanzten ihn Alina Cojocaru und Christopher Evans.

[Dagmar Ellen Fischer]

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Ballett-Werkstatt am 3. März 2019

„Geburtstagsüberraschung“ stand als Titel auf dem Cover des Programmzettels an diesem Vormittag, und wenn man ihn aufschlug, sah man – zwei leere Seiten! Einige im Publikum hielten es für einen Fehldruck, andere dachten sich, dass die Zeit im ereignisreichen Februar vielleicht nicht gereicht habe, ein Programm zusammenzustellen. Falsch, wie sich wenig später herausstellte: Ausnahmsweise würden die Zuschauer den Programmzettel erst NACH der zweistündigen Ballett-Werkstatt erhalten, kündigte John Neumeier an, „einmal in 46 Jahren darf man sich so etwas wünschen“, lachte er.

Die Überraschung bestand darin, dass an diesem Vormittag große Teile der Gala „The World of John Neumeier“ gezeigt wurden, für diejenigen, die sich die tatsächlich hohen Eintrittspreise nicht haben leisten können oder keine Karten mehr erhalten hatten. Diese Ankündigung bekam einen Extra-Applaus! Natürlich fehlten die Gaststars, die an der Gala mitgewirkt hatten, aber dennoch war die Ähnlichkeit groß. Einen entscheidenden Unterschied gab es dennoch: John Neumeier sprach die verbindenden Texte an diesem Morgen live und auf Deutsch. So erfuhr das Publikum, dass sich das Wohnzimmer immer dann in eine Bühne verwandelte, sobald der kleine John eine Langspielplatte mit der Musik von Leonard Bernstein in seinem Elternhaus auflegte.

„Der Nussknacker“ ist in John Neumeiers Neudeutung auch als Hommage an seine Lehrer zu verstehen, die ihn während seines Werdegangs als Künstler formten. Dafür steht symbolisch jene Szene, in der ein Lehrer seine Schülerin unterweist – zunächst an der Stange, dann im Raum. Von hier wandern Neumeiers Gedanken folgerichtig zu seiner Schule, in der er von Anfang an nicht nur die Technik seiner Schüler, sondern auch deren Kreativität fördern wollte – drei Sequenzen aus „Yondering“, das gezielt für seine Schüler entstand, legen Zeugnis davon ab.

Für die Vergänglichkeit in John Neumeiers Welt steht ein Werk aus seiner ersten Spielzeit in Hamburg, „Meyerbeer / Schumann“, das nie eine Wiederaufnahme erfahren durfte. Die Kreation ist untrennbar verbunden mit dem Pianisten Christoph Eschenbach, der in der Gala live, in dieser Matinee mit einer Aufnahme zu hören war.

„John’s Dream“ meint hier die Gründung des Bundesjugendballetts im Jahr 2011, mit der sich der Choreograf tatsächlich einen sehr lange gehegten Traum erfüllen konnte. Die je vier Tänzerinnen und Tänzer, die zurzeit zu diesem Ensemble gehören, begleiteten ihren Tanz u. a. mit gesprochenem Text und bündelten so ganz verschiedene Aspekte über die persönliche Bedeutung des Bundesjugendballetts für jede/n Einzelne/n von ihnen.

Dass die Geschichte des Tanzes für ihn immer lebendig war, hat John Neumeier bei unterschiedlichen Gelegenheiten bekundet. Er ehrt jene, die vor ihm da waren „und deren große Schritte mich getragen haben“. Der wichtigste dieser Vorgänger war fraglos Vaslaw Nijinsky; sein letzter öffentlicher Auftritt am 19. Januar 1919 inspirierte den Choreografen zu seinem Ballett „Nijinsky“, die Erinnerungen an jenen Auftritt bilden den Anfang der Choreografie. „Während Nijinskys letztem Tanz ziehen Bilder vor seinen Augen vorbei, Bilder vom Ersten Weltkrieg, von seinem Bruder Stanislaw und seiner letzten, revolutionären Choreografie“, erläuterte Neumeier diese Sequenz der Folge von Ausschnitten, die durch choreografierte Übergänge ineinander fließen.

[Dagmar Ellen Fischer]

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Kurznachrichten

Von seinem Vater gegen den eigenen Willen zum Ballett geprügelt, wurde er Jahre später der erste schwarze Romeo am Royal Ballet in London: Carlos Acosta gehörte bis zum Ende seiner Karriere 2014 zur Weltspitze. Der Kinofilm „Yuli“ erzählt das Leben des Ausnahmetänzers nach; er lief im Januar in deutschen Kinos an. Zum gleichen Zeitpunkt wurde bekannt, dass Acosta ab 2020 die Leitung des Birmingham Royal Ballet übernehmen soll.

„Bundesjugendballett trifft Shakespeare“ heißt das Programm, das über einen Monat lang allabendlich auf der Bühne des Ernst Deutsch Theaters zu sehen sein wird. Kevin Haigen inszeniert diesen Abend in einem von Peter Schmidt gestalteten Bühnenraum mit darstellenden Künstlern, auch Isabella Vértes-Schütter wirkt mit. „Warum Shakespeare? Was haben die Werke des englischen Dramatikers uns über 400 Jahre nach ihrer Veröffentlichung zu sagen? Welche Botschaften Shakespeares sind heute relevant? Gemeinsam mit Schauspielern, Musikern und Choreografen geht das Bundesjugendballett dem Shakespeare-Phänomen nach. John Neumeier, Intendant des Bundesjugendballett, stellt der jungen Company für dieses Projekt Choreografien seiner Shakespeare-Ballette zur Verfügung, die als Zitate in eine Collage aus Tanz, Musik, Theater und Poesie eingebunden werden: If music be the food of love, play and dance on.“ 30.05. bis 05.07., div. Uhrzeiten, Karten 22 bis 42 Euro, Tel. 22 70 14 20

Im März öffnete das Bundesjugendballett die Türen zu seinem Alltag und lud das Publikum ein, hinter die Kulissen blicken: Auf der kleinen Bühne der „Fabrik der Künste“ in Hamburg zeigte die junge Company am 16. und 17. März den Erarbeitungsprozess einer neuen Choreografie von Gastchoreograf Dustin Klein. Klein ist Tänzer am Bayerischen Staatsballett und hat bereits Werke für die Münchner Company sowie für das Stanislawski-Theater Moskau kreiert. Auf dem Programm standen weitere Choreografien aus dem vielfältigen Repertoire des Bundesjugendballetts.

Ab 12. März konnten Interessierte die Proben miterleben und die Entstehung des neuen Programms verfolgen, bis zum 15. März öffnete das Bundesjugendballett täglich in der Zeit von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr seine Proben für Zuschauer.

Ebenfalls zugänglich in dieser Zeit war eine Fotoausstellung von Silvano Ballone, der die Auftritte des Bundesjugendballetts seit vielen Jahren fotografisch dokumentiert. Die Ausstellung „A journey – by Silvano Ballone“ wurde am 12. März um 19 Uhr eröffnet und konnte auch im Rahmen der Vorstellungen am 16. und 17. März besucht werden.

Er gehört zu den großen Choreografen unserer Zeit: William Forsythe hat das Ballett seit den 1980er Jahren in komplexe Denkstrukturen überführt. Seit der Schließung seiner Forsythe Company 2015 choreografiert er nur noch selten. Daher ist es eine kleine Sensation, dass er für „A Quiet Evening of Dance“ sieben seiner engsten ehemaligen Tänzer/innen zusammen gebracht hat, um wieder mit ihnen zu arbeiten. Entstanden sind zwei neue Stücke sowie neue Versionen der Repertoire-Produktionen „Duo2015“ und „Catalogue Second Edition“. Das Programm des Abends ist von feinen, analytischen Verdichtungen bis zu vom Barock inspirierten Gegensätzen geprägt. 28. bis 30.3., jeweils 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestr. 20, Karten 12 bis 44 Euro, Tel. 27 09 49 49

Nachdem sie 2017 die Elbphilharmonie miteröffnet hat, bringt die Berliner Choreografin und zukünftige künstlerische Leiterin des Staatballetts Berlin, Sasha Waltz, ihr neues Stück nach Hamburg. Für „Kreatur“ arbeitete sie u. a. mit dem Musik- und Performance-Trio Soundwalk Collective zusammen, das in seinen genreübergreifenden Klangkompositionen Methoden der Anthropologie, Ethnographie und Psychogeographie einfließen lässt und für das Stück Aufnahmen aus dem Berghain Berlin und der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mixte. In dieser Choreografie tanzt das Ensemble, gekleidet in feingewebte silberwollene Hüllen (Kostüme: Iris van Herpen) und unterstrichen von dem fast metaphysisch wirkenden Lichtdesign, bildstarke Szenen zwischen Kämpfen und leisen Begegnungen; konkrete Bilder lösen sich immer wieder in abstrakten Formationen auf. 2. bis 5.5., jeweils 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestr. 20, Karten 12 bis 44 Euro, Tel. 27 09 49 49

Ballett als Live-Übertragung aus dem Bolschoi-Theater ins Passage-Kino, Mönckebergstr. 17, Tel. 46 86 68 628 07.04.2019: „Das goldene Zeitalter“, 14 Uhr, 2:20 Std., Chor.: Jury Grigorowisch

Mit Schostakowitschs moderner Musik und der Konzertsaal Atmosphäre ist das Ballett ein Ausflug in die 1920er Jahre. Der junge Fischer Boris verliebt sich in Rita. Er folgt ihr zum Kabarett, dem bevorzugten nächtlichen Treffpunkt für Tänzer, Banditen und Nachtschwärmer und erfährt, dass sie die schöne Tänzerin „Mademoiselle Margot“ ist, die Angebetete des lokalen Ganoven Yashka.

19.05.2019: „Carmen/Petruschka“, 17 Uhr, 2:20 Std.„Carmen Suite“, Chor.: Alberto Alonso, Musik: Georges Bizet und Rodion Shchedrin?„Petruschka“, Chor.: Edward Clug, Musik: Igor Strawinsky

[Dagmar Ellen Fischer]

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Letzte Aktualisierung: 04.03.20, [ddd]