Ballett-Werkstatt am 14. Januar 2024

Seinem Publikum wünschte John Neumeier an diesem Vormittag ein „inspirierendes und
harmonisches neues Jahr“! Die letzte Benefiz-Ballett-Werkstatt unter seiner Ägide widmete sich
einem „Hamburger Klassiker“: „Die Kameliendame“, die in nächster Zeit in vier unterschiedlichen
Besetzungen auf dem Spielplan steht. An diesem Sonntag waren Ida Praetorius und Jacopo
Bellussi sowie Madoka Sugai und Alessandro Frola in den Rollen von Marguerite und Armand zu
sehen. Die weiteren Besetzungen sind Alina Cojocaru/Alexandr Trusch und Anna Laudere/Edvin
Revazov.
„Die Kameliendame“ ist in der Tat ein altersloser Klassiker, vor 45 Jahren wurde er mit dem
Stuttgarter Ballett uraufgeführt. Wenn der Choreograf dieses Werk in der 51. Saison auf den
Spielplan setzt, dann geschieht das keineswegs mit einem nostalgischen Rückblick, versichert
Neumeier zu Beginn der Matinee, sondern einzig mit der Intention, das Ballett lebendig zu
erhalten. Das passiert ohnehin, denn 1. übernehmen jedes Mal neue TänzerInnen, 2. tanzen selbst
erfahrene TänzerInnen das gleiche Ballett anders, sobald ihre Erfahrungen reicher geworden sind
und 3. ändert der Choreograf selbst seine Werke bei jeder Wiederaufnahme. Bei den Proben
sollten seine Assistenten immer eines griffbereit haben: einen Radiergummi, scherzt Neumeier.
So habe er beispielsweise vor Kurzem erst entschieden, dass die drei Verehrer Marguerites –
getanzt von Francesco Cortese, Javier Monreal und Louis Musin – nicht nur in einer Szene tanzen,
sondern im gesamten Verlauf des Balletts wiederholt auftauchen sollen. Da diese Rollen – ihre
Namen lauten Arthur, Edouard und Eugène – technisch gut zu bewältigen sind, werden sie meist mit
Anfängern oder Ballettschülern besetzt. Eine solche Neuerung ist typisch, denn der Choreograf
schaut jedes seiner Werke bei einer Wiederaufnahme unter dem Gesichtspunkt einer möglichen
Verbesserung an.
John Neumeier erinnert sich an die Entstehungsgeschichte des Balletts: Bei John Crankos
Trauerfeier sicherte er Marcia Haydée seine Unterstützung zu. Darauf Bezug nehmend, erzählte
die damalige Erste Solistin und Muse Crankos, dieser hätte ein Ballett mit ihr als „Lady Macbeth“
geplant gehabt. John Neumeier reagierte mit einem Gegenvorschlag: Ebenfalls Shakespeare, aber
„Antonius und Cleopatra“, mit Marcia Haydée als ägyptischer Königin; doch gestaltete sich das
Finden geeigneter Musik zu diesem Vorhaben schwierig. Bei einem gemeinsamen Abendessen fiel
dann die Entscheidung zugunsten Alexandre Dumas’ berühmtem Roman aus dem Jahr 1848. In
Punkto Musik gab der Dirigent Gerhard Markson die entscheidende Anregung: Chopin oder Berlioz.
Mit Blick auf Kompositionen, die im 19. Jahrhundert in den Pariser Salons gespielt wurde, wählte
Neumeier Musik des melancholischen polnischen Pianisten.
Zu Beginn entsprechen die Bewegungen und Schritte Marguerites jenen, die auch die Pariser
Gesellschaft kennzeichnen. Sie ähneln den Bewegungen ihrer Freundin Prudence (Ana
Torrequebrada), die mit ihrem Freund Gaston ein Paar bildet, das sich im Verlauf der Geschichte „gar nicht weiterentwickelt, sie bewegen sich am Ende wie am Anfang“, erläutert Neumeier. Ganz
anders dagegen Marguerite und Armand, die eine erkennbare Entwicklung durchmachen.

Es gab ein historisches Vorbild zur Kameliendame: Sie hieß (bzw. nannte sich) Marie Duplessis,
und A. Dumas d. J. war – neben Franz Liszt und Théophile Gautier – einer ihrer Liebhaber.
Überliefert sind auch ihre Krankheit und der frühe Tod im Alter von 23 Jahren. Besonders die
„filmische Konstruktion“ des Romans inspirierte John Neumeier, dass nämlich nicht chronologisch,
sondern aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird: aus Armands Sicht, jener seines Vaters und
schließlich aus der Marguerites, die sie in ihrem Tagebuch festhielt. Später dramatisierte Dumas
d. J. die Geschichte, indem er den Text für Schauspiel umschrieb, das tat er indes nur aus Geldnot,
so Neumeier, der sich ausschließlich für die ursprüngliche Romanversion interessiert.
Den ersten Pas de deux für Armand und Marguerite choreografierte er innerhalb von nur drei
Stunden, Egon Madsen war Marcia Haydées Partner in der Uraufführung. Die Szene: Marguerite
lädt Freunde zu sich nach Hause ein, bekommt einen Hustenanfall und zieht sich zurück, Armand
folgt ihr. Mit Madoka Sugai in der Titelrolle probiert John Neumeier in dieser Matinee etwas Neues:
Sie soll nicht nur vornüber gebeugt stehen, während ihre Bewegungen einen vom Husten
geschüttelten Körper zeigen, sondern kollabieren. Also beginnt die Erste Solistin erneut, simuliert
den Husten, vermittelt, wie schwer sie Luft bekommt und fällt zu Boden. Daraufhin folgt ihr ein
sehr stürmischer Armand, Alessandro Frola. Am Beginn dieses Pas de deux stehen artifizielle,
isolierte Armbewegungen von Marguerite, die John Neumeier als „Dekoration vor dem
Oberkörper“ beschreibt – sie führt ihm etwas vor, ist indes nicht sie selbst. Im weiteren Verlauf
ihres gemeinsamen Flirt-Tanzes wird sie zunehmend authentischer, ehrlicher.
Für die Szene „Auf dem Land“ wählte der Choreograf Soloklavier als musikalische Begleitung,
bewusst kein Orchester. Im Ambiente der weißen Korbstühle feiern Freunde eine Party im Haus
des Herzogs, das er Marguerite großzügig zur Verfügung stellt. Das Paar feiert nicht mit, hält sich
ruhig im Hintergrund – bis zum Eintreffen eben jenes Herzogs. Als er Armand auffordert zu gehen,
bekennt sich Marguerite zu ihrem Geliebten und wirft dem Herzog ihre Halskette vor die Füße.
John Neumeier kommentiert: „Mit dieser Geste gibt sie quasi ihr bisheriges Leben auf, für einen
Moment steht die Zeit still“. Hat sie zuvor nur „vielleicht“ zu Armand sagt, so steht sie nun mit
einem klaren „Ja“ zu ihrer Beziehung. Der folgende Pas de deux enthält viele Hebungen,
Marguerite müsse „oben so aussehen, als ob sie schwebe“, so Neumeier, Armand beschütze sie.
Dieser „weiße Pas de deux ist ein sehr inniger“, er dauert einen ganzen Sommer und vermittelt
„wir lieben uns.“
Klar und vielschichtig zeichne Dumas seine Figuren im Roman, sagt Neumeier. Armand schenkt
Marguerite das Buch „Manon Lescaut“; diese Geste überträgt der Choreograf, indem er die
Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert als Ballett – als Stück im Stück – einbaut. Nachdem
sie diese Vorführung sah, tanzt Marguerite selbst und sagt mit ihren Bewegungen: „So ist es nicht
richtig!“ Womit sie den gemeinsamen Tod von Manon und ihrem Geliebten Des Grieux
kommentiert.
Auf Bitten von Monsieur Duval, Armands Vater, verlässt Marguerite ihre große Liebe. „Armand
weiß nicht, dass sie ihn aus Liebe verließ“, erklärt John Neumeier. Der Verlassene demütigt
Marguerite bei nächster Gelegenheit durch das Überreichen einer großen Geldsumme für ihre
Dienste. Zu einer letzten Begegnung kommt es dann im sogenannten schwarzen Pas de deux:
Marguerite, inzwischen sehr krank, bittet ihren Ex-Geliebten, sie zukünftig nicht mehr zu
verletzen. Für diesen erotischen Pas de deux wählte John Neumeier die Ballade für Klavier Nr. 1
g-Moll op. 23 von Chopin. Ihm sei es ein Rätsel, wieso Verdi diese starke Szene nicht in seine
Oper aufnahm. „Ich habe sie nicht ignorieren können!“
Auch diese Benefiz-Ballett-Werkstatt endet mit dem Pas de deux „Wo die schönen Trompeten
blasen“, den John Neumeier 1989 für und mit Gigi Hyatt und Jeffrey Kirk kreierte. 35.000 Euro
kamen an diesem Vormittag an Spenden zusammen, erhalten wird das Geld die Stiftung Tanz.
Dagmar Ellen Fischer