Uraufführung von John Neumeiers „Beethoven-Projekt II“ am 29. Mai 2021

Mit geradezu jugendlich-zielstrebigem Gang betritt John Neumeier die Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Nach sieben Monaten Zwangspause scheint es ihm ein Bedürfnis zu sein, das Publikum persönlich zu begrüßen. Auch wenn nicht sichtbar, sei das Hamburg Ballett in jüngster Vergangenheit „immer in Bewegung geblieben“, so der Ballettchef, nur habe es niemanden bewegen können – und dann bricht seine Stimme vor innerer Bewegtheit.
Am 29. Mai feierte das Ensemble die Rückkehr zum Live-Tanz mit der Uraufführung von „Beethoven-Projekt II“. Mehrmals verschoben, ist dieser Abend die realisierbare Alternative zur – vor Ausbruch der Pandemie – ursprünglich geplanten Neumeier-Choreografie zu Beethovens Neunter Sinfonie, die unter den geltenden Beschränkungen nicht umsetzbar gewesen wäre. Für diese nachträgliche Würdigung zum 250. Geburtstag Beethovens (im Dezember 2020) wählte der Choreograf sehr unterschiedliche Musik des Komponisten. Zum zweiten Mal arbeitete er eng mit Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano zusammen.

Mit „Hausmusik“ und „Tanz!“ ist der zweigeteilte Abend überschrieben. Allein die erste Hälfte besteht aus drei unterschiedlichen, musikalisch gegliederten Abschnitten. Die Eröffnung übernimmt die Sonate für Klavier und Violine Nr. 7 c-Moll op. 30 Nr. 2. Der Erste Solist Aleix Martínez, der schon 2018 im „Beethoven-Projekt“ den Komponisten verkörperte, dominiert als sich wie verzaubert zwischen den Live-Musikern (Pianistin Mari Kodama und Anton Barachovsky, Violine) bewegender junger Mann. Doch schon bald scheint er verwirrt und isoliert, eine Konfrontation mit seinem Alter Ego (Jacopo Bellussi) verspricht Halt zu geben. Im Pas de deux mit einer inspirierenden Muse (Hélène Bouchet) eröffnen sich neue Perspektiven. Sich seiner Sehnsucht zu überlassen, erlaubt er sich indes nicht: Die verlangend ausgestreckte Geste eines Arms wird unmittelbar wie unter Zensur zurückgezogen.

Als sich der Vorhang hebt, der den hinteren Bühnenraum verdeckt hielt, gibt er den Blick frei auf das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und ein riesiges ornamentales Bühnenbild (Heinrich Tröger) im Hintergrund. Zum ersten Satz aus Beethovens einzigem Oratorium „Christus am Ölberge“ op. 85 vollziehen sich gravierende Änderungen im Leben des Musikers: Seine fortschreitende Schwerhörigkeit schließt ihn zunehmend vom gesellschaftlichen Leben aus, sein selbstgewählter Rückzug tut ein Übriges; hinter dem Orchester erklimmt er ein Podest, auf dem ein Flügel und sein Alter Ego auf ihn warten. Den folgenden melancholischen Pas de deux begleitet Tenor Klaus Florian Vogt, der von Christus’ Angst vor den ihm drohenden Leiden singt – eine Parallele zu Beethovens Angst vor der Taubheit. Zur Klaviersonate Nr. 21 C-Dur op. 53 trifft Martínez/Beethoven erneut auf seine Inspiration, er traut jedoch seiner Wahrnehmung nicht, wie er durch Bewegung erzählt. Umarmungsversuche laufen ins Leere.

Nach der Pause erklingt dann die populäre und sehr rhythmische Siebte Sinfonie Beethovens. John Neumeiers Choreografie steigert sich während der vier Sätze zu einem rauschenden Fest voller Übermut und Lebensfreude. Solisten und Ensemble tanzen – jetzt in weißen und schwarzen Kostümen sowie in solchen der drei Grundfarben (Albert Kriemler) – mit überbordender Kraft. Die Tänzer strahlen – aber nicht etwa, weil es zum tänzerischen Ausdruck gehört, sondern weil sie vor Tanzlust nur so sprühen. Den Höhepunkt bilden die Ersten Solisten Madoka Sugai und Alexandr Trusch, von ihnen springt der Funke leicht in den Zuschauerraum über. Der personifizierte Beethoven hingegen bleibt ein Fremdling, doch immerhin mischt er sich im Finale lächelnd unter die folkloristischen Formationen und genießt als Beobachter die ausgelassene Fröhlichkeit. Im Schlussbild schwebt er waagerecht auf den ausgestreckten Armen seines Alter Egos, das sich endlos um sich selbst dreht.

Die akustische Vielfalt von Kammermusik, Oratorium, Klaviersolo und Sinfonie schickt das Publikum durch ein breites Spektrum an Emotionen. John Neumeier zieht eine kongeniale tänzerische Ebene in die Partituren ein.

Dagmar Ellen Fischer