Wie wertvoll es ist, ältere Produktionen wieder aufleben zu lassen, konnte man eindrucksvoll am 9. Februar 2025 in der Staatsoper bewundern. John Neumeiers Adaption der literarischen Vorlage von Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ ist über zwanzig Jahre alt (die Hamburger Premiere war im Dezember 2003) und seither unzählige Male auf der Staatsopernbühne getanzt worden, nun feierte sie ihre Wiederaufnahme ins Repertoire.
John Neumeier hat die Angewohnheit, seine Stücke, die ins Repertoire zurückkehren, stets neu zu durchleuchten, immer wieder zu hinterfragen und zu aktualisieren. Für den Zuschauer ist das eine ganz spannende Sache, schließlich hat man selbst in den vergangenen zwanzig Jahren seit der Premiere an Lebenserfahrung gewonnen und sieht seither viele Dinge anders. Auf mich persönlich wirkt Neumeiers Sichtweise heute auch anders als zwanzig Jahre zuvor, genau das macht es so aufregend, sich immer wieder mit älteren Werken auseinanderzusetzen.
Dass ältere Werke keinen Museumscharakter haben müssen, liegt auch an den Tänzern unserer wunderbaren Compagnie, die diese Stücke immer wieder neu beleben, durch neue Besetzungen, durch Veränderungen in der Choreografie etc.
Die meisten von uns sehen in den Hauptrollen immer noch Lloyd Riggins, Laura Cazzaniga und die Bubeníček-Zwillinge vor ihrem geistigen Auge, sie haben die Rollen geprägt und jahrelang geformt. Die Fußstapfen sind also sehr groß, und dennoch meistern die Tänzer, die diese Rollen neu übernommen haben, ihre Aufgabe hervorragend.
Edvin Revazov und Christopher Evans sind alternierend als Gustav von Aschenbach besetzt, beide haben diese Rolle bereits in der letzten Wiederaufnahmeserie während der Corona-Pandemie getanzt. Sie verkörpern die Rolle völlig unterschiedlich, der eine ist der erschöpfte Aschenbach, der einen schweren Liebestod stirbt, der andere versprüht seine eigenen Emotionen bis zum Schluss und sorgt für viele Tränen in den Augen der Zuschauer.
Neu als Tadzio sind sowohl Caspar Sasse als auch Lennard Giesenberg. Caspar Sasse ist erst in seiner zweiten Spielzeit im Ensemble, machte allerdings schon eindrücklich in Neumeiers letztem Werk „Epilog“ auf sich aufmerksam. Sein Tadzio wirkt jugendlich unbekümmert, er ist schon rein optisch ein Gewinn für diese Rolle. Lennard Giesenberg legt seine Rolle anders an, ihn umgibt von Anfang an eine geheimnisvolle Aura, verbunden mit einer berührenden Stille im Ausdruck.
Den Vergleich mit den Bubeníček-Zwillingen müssen die Rollendebütanten Louis Musin und Artem Prokopchuk kaum fürchten. Natürlich sind sie keine Zwillinge, aber sie bilden eine geschlossene Einheit, ihre Bewegungen sind exakt aufeinander abgestimmt, besonders in den großen Gruppenszenen kann man kaum die Augen von ihnen lassen.
Besonders spannend sind die verschiedenen Besetzungen der „Konzepte“ Aschenbachs. Für Silvia Azzoni und Alexandre Riabko wurden diese Rollen choreografiert, die beiden sind die einzigen Tänzer, die nach über zwanzig Jahren aus der Premierenbesetzung noch dabei sind. Wie gewohnt, tanzen sie hingebungsvoll und auf hohem Niveau. Sehenswert in diesen Rollen sind auch Madoka Sugai und Jacopo Bellussi sowie Daniele Bonelli und Futaba Ishizaki.
Auch die übrigen SolistInnen und Ersten SolistInnen sind sehenswert, zu erwähnen sind da besonders Anna Laudere, Ida Praetorius, Xue Lin, Matias Oberlin, Alessandro Frola und viele weitere.
Ein Weiterer ist durchaus herausragend, insofern will ich ihm hier die verdiente Aufmerksamkeit schenken: Die Rolle des „Jungen Aschenbach“ wurde von einem Aspiranten getanzt. Filipe Rettore strahlt und glänzt in seiner ersten Solo-Rolle, seine jugendliche Frische und seine brillante Umsetzung der Rolle sind berührend. Hoffentlich gibt es von diesem aufstrebenden jungen Tänzer in Zukunft noch mehr Solistisches zu sehen. Und noch einer muss erwähnt werden: Der Pianist David Fray, der die Musik von Richard Wagner am Klavier erklingen ließ.
Es gibt noch eine Vorstellung während der Ballett-Tage am 13. Juli. Interessierte sollten sich schnell Karten sichern, denn die Vorstellungen im Februar waren ausverkauft. Herzlichen Dank an John Neumeier und sein einzigartiges Ensemble für diese gelungene, sehr sehenswerte Wiederaufnahme eines der zentralen Werke aus Neumeiers umfangreichem Schaffen.
[Timm Berkefeld]