Ballett-Werkstatt am 14. September 2025

Eine Woche vor der Wiederaufnahme-Premiere ist „Die Möwe“ Thema in der ersten Ballett-Werkstatt der Spielzeit. Lloyd Riggins begrüßt das Publikum und betont, dass der Kern der Identität des Hamburg Ballett das Werk von John Neumeier sei. Der erscheint unmittelbar danach und sagt: „Ich freue mich sehr, dass Lloyd Riggins mich eingeladen hat!“

Der Choreograf erinnert sich an die Ballett-Werkstatt des Jahres 2002, die sich ebenfalls thematisch der „Möwe“ widmen sollte – doch die war damals noch nicht fertig. Neumeier hatte sich gründlich mit Tschechows Drama beschäftigt: Er hatte Theaterwissenschaft und Schauspiel studiert und wollte Schauspieler werden. In New York City sah er seinerzeit Tschechows „Die drei Schwestern“ in einer Inszenierung von Lee Strasberg, jenem berühmten Gründer des legendären, nach ihm benannten Studios, in dem er „The Method“ lehrte: Nicht der Text steht im Vordergrund, stattdessen sind die Worte nur Anlass für einen expressiven Zustand, damit die Sprache so natürlich wie möglich genutzt werden kann. Als er später „Die Möwe“ mit Geraldine Page sah, wusste er, „dass er das Stück machen wollte“, so Neumeier, ihn faszinierte eine „magische Realität“, die er während der Aufführung erlebte. Bekräftigt wurde sein Entschluss vom Erlebnis der „Möwe“ in der Regie von Andrea Breth in Berlin 1996.

Für John Neumeier verdichten sich die Themen des Dramas zu Liebe und Kunst. Bei der Uraufführung in St. Petersburg 1869 fiel es übrigens durch: Man kritisierte, dass gar nichts passiere, dass nur geredet würde, und das auch noch auf oberflächliche Weise. Erst die Inszenierung am Moskauer Kunsttheater, inszeniert von Stanislawsky, geriet zum Erfolg.

Im Folgenden stellt John Neumeier sämtliche Charaktere vor, die er aus Tschechows Drama übernahm, und skizziert die komplexen Beziehungen der Figuren zueinander. Dabei erzählt er wie nebenbei die gesamte Handlung. „Wenn ich Sie jetzt konfus gemacht habe, dann haben Sie das richtige Tschechow-Gefühl“, scherzt Neumeier. Dem Autor als auch dem Choreografen geht es um die Präsenz von Außen- und Innenwelt der agierenden Menschen. Im Schauspiel sagt niemand, was er oder sie wirklich meint, erläutert der Choreograf. Genau darin besteht eine Parallele zum Komponisten Schostakowitsch: Auch er meint etwas ganz anderes, als man hört! Verschiedene Werke des 1975 verstorbenen russischen Komponisten prägen Neumeiers Choreografie. Und der nimmt diese Widersprüche im Tanz auf: Aktion und Intention fallen mitunter auseinander. Das macht beispielsweise die Szene zwischen Trigorin und Nina deutlich: Der ältere Choreograf Trigorin gibt vor, Nina unterrichten zu wollen, tatsächlich jedoch nähert er sich ihr in unangemessener Weise, indem er sie oft übergriffig berührt – seine Intention unterscheidet sich also deutlich von der vorgeblichen Aktion.

Dank dieser Szene kann man sich leider nur allzu gut vorstellen, wie männliche Ballettmeister und Choreografen (Frauen waren bis zum 20. Jahrhundert noch die große Ausnahme) solche Situationen missbrauchten.

Das Finale der Ballett-Werkstatt bildet die Szene „Im Revuetheater“, ein echter Rausschmeißer zu fetziger Musik. Er habe sich kurzfristig entschlossen, sein Publikum mit dieser fröhlichen Stimmung zu entlassen, so John Neumeier, und sich gegen das Zeigen des traurigen Schlusses entschieden. Langer Applaus nach diesem (unerwarteten) Wiedersehen mit dem ehemaligen Hamburger Ballettchef!

[Dagmar Ellen Fischer]