„Die Kameliendame“: Debüt der Ersten Solisten Madoka Sugai und Alessandro Frola

Heldinnen in Ballettklassikern sind oft differenziert angelegt, ob sie nun Odette, Marie oder Julia
heißen. „Die Kameliendame“ jedoch fordert eine außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit bei der
Verkörperung der Titelrolle: Marguerite Gautier ist Mitte des 19. Jahrhunderts eine umworbene
Schönheit der amüsierfreudigen Pariser Halbwelt, und als solche ist sie Mittelpunkt vieler
gesellschaftlicher Ereignisse; aber sie ist auch wählerische Lebedame, leidenschaftlich Liebende,
gedemütigte Kurtisane, verunsichertes Mädchen und eine todkranke junge Frau, die einsam stirbt.
Madoka Sugai gab ihr Debut in dieser Rolle im Januar 2024. Künftige Interpretinnen werden sich
an ihr messen lassen müssen, denn die Erste Solistin vermittelt dem Publikum die Nuancen dieser
vielschichtigen Figur ebenso glaubwürdig wie berührend. Bei ihr geht ein sehr hohes
tanztechnisches Niveau eine harmonische Verbindung mit darstellerischen Fähigkeiten ein, die
derart ausbalanciert nur selten zu finden sind. Nie erliegt sie der Versuchung, mimisch zu
übertreiben – was aus der dramatischen Gestalt und ihrem tragischen Schicksal abgeleitet werden
könnte. Ihr zur Seite tanzt Alessandro Frola, Italiener Jahrgang 2000 und seit dieser Spielzeit
Erster Solist im Hamburg Ballett. Er ist ein sehr stürmischer Armand, der unbeirrt seine Gefühle
zeigt. Das Objekt seines Begehrens gibt sich zunächst distanziert, flüchtet sich in kapriziöses
Gebaren, um sich auf diese Weise vor seiner Emotionalität in Sicherheit zu bringen. Zunächst sagt
sie weder „Ja“ noch „Nein“ zu seiner Werbung, sondern nur „Vielleicht“.
Im zweiten Akt genießt das Liebespaar ein sorgloses Leben auf dem Land. Die Beziehung der
Beiden ist gefestigt, Frolas Armand bewegt sich als Neuer in Marguerites Freundeskreis mit großer
Selbstverständlichkeit, die Liebe macht ihn selbstbewusst. Ohne sein Wissen empfängt Marguerite
seinen Vater. In diesem Dialog verwandelt sich Sugai in ein hilfloses Mädchen, das sich verzweifelt
dagegen wehrt, die Liebe seines Lebens aufgeben zu müssen; aber schließlich verlässt sie
Armand, um ihn gesellschaftlich nicht zu stigmatisieren. Auch in seiner wütenden Enttäuschung
über diesen Verlust ist Frola temperamentvoll und ausdrucksstark, auch wenn er wenig später
erkennt, dass Marguerite ihn aus Liebe verließ. Auf den finalen Pas de deux, der erotisch
aufgeladen die Ausweglosigkeit ihrer Situation zeigt, reagiert das bewegte Publikum mit
Zwischenapplaus. John Neumeier lässt den unterschiedlichen Besetzungen Raum für individuelle
Interpretationen. So können die beiden Publikumslieblinge Madoka Sugai und Alessandro Frola in
diese anspruchsvollen Rollen ihre persönliche Deutung einbringen – und das Publikum im Sturm
erobern.
Dagmar Ellen Fischer
Marianne Kruuse am 24. Januar 2024 zu Gast bei den Ballettfreunden Hamburg
Spontan hatte die ehemalige Erste Solistin des Hamburg Ballett und frühere Leiterin der
Ballettschule John Neumeier ihren Besuch für den Abend des 24. Januar angekündigt. Thematisch
ging es um das Ehepaar Leonid und Irina Jacobson. Da Frau Kruuse mit der 2018 verstorbenen
Tänzerin und Ballettmeisterin beim Hamburg Ballett einige Jahre zusammengearbeitet hatte,
konnte sie den Abend mit ihren persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen an diese
außergewöhnliche Persönlichkeit bereichern: Sie berichtete von der Strenge ihres Unterrichts und
der Disziplin, die Irina Jacobson von jedem Einzelnen der Compagnie einforderte. Die
Ballettfreunde Hamburg kennen und schätzen Marianne Kruuse seit vielen Jahren, und so
entwickelte sich im Laufe des Abends ein angeregter Dialog zwischen ihr und den Anwesenden,
der sich auch nach der Veranstaltung fortsetzte. Aus dieser Atmosphäre heraus entstand bei
diesem Treffen die Idee, Marianne Kruuse zu einem eigenen Abend der Ballettfreunde Hamburg
einzuladen.
Dagmar Ellen