Die erste Vorstellung der diesjährigen Schwanensee-Serie bot eine besondere Überraschung.
Gemäß den Besetzungsangaben sollte Edvin Revazov den König tanzen, den er in den
vergangenen Jahren bereits mehrfach brillant dargeboten hatte. Doch manchmal kommt es
anders. Bereits zu Beginn des ersten Akts, in seinem ersten Solo, verletzte sich Edvin Revazov
am Bein, und zwar so sehr, dass ihm klar war, dass er die Vorstellung nicht würde zu Ende tanzen
können. Dem Publikum blieb dieser Unfall anfangs verborgen, da die Tänzer der Compagnie so
improvisierten, dass die Verletzung gar nicht auffiel.
Gegen Ende des ersten Akts, kurz vor dem Pas de deux, den der König mit Prinzessin Natalia
tanzt, erschien aus dem Hintergrund plötzlich ein dunkelhaariger Tänzer im Königskostüm,
während Edvin Revazov seitlich von der Bühne abging. So fragte sich der neugierige Zuschauer
schon, was da denn nun passiert war.
Es war Christopher Evans, der sich auf den Weg in die Staatsoper gemacht hatte, schnell in das
Königskostüm hineingeschlüpft war, und ohne in der Maske gewesen zu sein oder sich aufgewärmt
zu haben, diesen recht anspruchsvollen Pas de deux mit Ida Praetorius tanzte.
Danach schloss sich der Vorhang (eigentlich geht es ohne Unterbrechung weiter in den berühmten
Schwanenakt), und John Neumeier betrat die Bühne, um dem Publikum zu erklären, was
geschehen war. Christopher Evans nutzte diese Pause für ein kurzes, aber notwendiges
Aufwärmtraining, um die anspruchsvolle Partie des Königs bewältigen zu können.
Insgesamt war es eine sehr spannungsgeladene, emotionale Vorstellung, ungeprobt für
Christopher Evans, der seine Aufgabe beeindruckend bewältigte. So pur und wahrhaftig wird man
kaum wieder einen König tanzen sehen. Die letzte Szene im Verlies, der letzte Pas de deux
zwischen dem König und Natalia, geriet den beiden Tänzern mit einer berührenden emotionalen
Stärke, wie sie wohl an diesem Abend absolut einzigartig war.
Ein großes Kompliment an Christopher Evans und seine Partnerin Ida Praetorius, aber auch an die
gesamte Compagnie, die diesen besonderen Ballettabend so perfekt gestaltet haben!
In der weiteren Aufführungsserie gab es Rollendebüts: Alessandro Frola und Jacopo Bellussi
brillierten als „Mann im Schatten“, der Solist Louis Musin debütierte als Graf Alexander mit Ana
Torrequebrada als Claire, sie hatte diese Rolle bereits in der vergangenen Spielzeit getanzt.
Weitere Vorstellungen von „Illusionen – wie Schwanensee“: 1. und 7. Juni 2024.
Timm Berkefeld