Timm Berkefeld begrüßte seine beiden Gäste, die dem Publikum seit Jahrzehnten bestens bekannt sind: Silvia Azzoni kam 1993, Alexandre Riabko 1996 zum Hamburg Ballett. Beide wurden 2001 zu Ersten Solisten ernannt, während einer Tournee nach der letzten Vorstellung in Aix-en-Provence am Ende der Spielzeit. „Jetzt haben wir es geschafft!“ dachten die Beiden. Doch gleichzeitig auch: „Was kommt danach? Hoffentlich folgen weitere tolle Rollen!“ Riabko empfand den Aufstieg vom Gruppentänzer zum Solisten als größeren Sprung. In ihrer Anfangszeit haben sie sich damals viel von den „Großen“ abgeschaut, von Ivan Liška und Chantal Lefèvre zum Beispiel. Inzwischen sind sie selbst zu Vorbildern geworden. Offiziell werden sie als Sonderdarsteller auf der Website geführt, doch dieser Titel bedeute nicht so viel; seinerzeit ging es vielmehr darum, in der Compagnie Platz für Jüngere zu machen. Große Rollen wurden von John Neumeier für die beiden kaum kreiert. Eine Ausnahme bilden die sogenannten Konzepte in „Tod in Venedig“, die beide seit nunmehr 22 Jahren tanzen.
Tatsächlich aber gibt es Ballette, die man sofort mit Silvia Azzoniund Alexandre Riabko assoziiert: die Titelrollen in John Neumeiers „Die kleine Meerjungfrau“ und „Nijinsky“, obwohl sie ursprünglich für andere kreiert wurden. Riabko erinnert sich, dass er vor jeder Wiederaufnahme zu „Nijinsky“ mental sehr angespannt ist und sich immer wieder gründlich auf die jeweiligen Aufführungen vorbereitet. Auch die kleine Meerjungfrau ist eine äußerst anstrengende Rolle. Azzoni erinnert sich: „Es gibt immer diese Grenze, einen Zustand von extremer Erschöpfung; man denkt, es geht nicht mehr weiter, aber es sind noch 30 Minuten zu tanzen! Und immer schafft man es, diese Grenze zu überwinden – und es geht weiter.“ Die Kreatur Meerjungfrau musste Azzoni erst in sich finden, und der Umgang mit dem stoffreichen Kostüm bildete eine besondere technische Herausforderung. Viele Male sind sie und ihr Partner Carsten Jung in den Proben gestürzt, bevor sie einen Rhythmus fanden; als sie es später mit ihrem Ehemann Riabko tanzte, mussten auch sie erst ein gemeinsames Timing a finden. Nach derart anspruchsvollen Rollen dauert es mitunter über zwei Stunden, um wieder im eigenen Leben anzukommen. Schwierig ist es, wenn man nur einen Tag zwischen solch fordernden Vorstellungen hat: „Dann kommt man gar nicht mehr raus aus dem Meer“, sagt Azzoni. Die Ablehnung des Prinzen sei eine Verletzung, „wie ein Schnitt, der immer wieder erst heilen muss!“ Und Riabko ergänzt: „Man erlebt alles, was der Person widerfährt.“ Da kann es schon mal passieren, dass er auf dem Weg zur U-Bahn eine bestimmte Bewegung aus dem Ballett „Nijinsky“ erneut wiederholt. Drei Tage vor und drei Tage nach einer „Nijinsky“-Vorstellung sei er zuhause nicht ansprechbar, erläutert Azzoni verständnisvoll.
Die Proben zum vierteiligen Ballettabend „The Times Are Racing“ waren besonders, weil vier verschiedene Choreografen bzw. die jeweiligen einstudierenden Personen erst einmal alle Tanzenden der Compagnie kennenlernen wollten. Im Eröffnungsstück der Saison, „Slow Burn“, übernahm Azzoni eine führende Rolle. Sie zweifelte, ob sie diese ungewohnten Bewegungen je würde ausführen können, diese Art Bodenarbeit und HipHop-Moves. Aber: „Wir sind immer noch hungrige Tänzer“, so Azzoni, „wir suchen neue Herausforderungen.“
[Dagmar Ellen Fischer]