Ballett-Werkstatt am 2. Februar 2025: Wiederaufnahme von „Tod in Venedig“

Ballettintendant Demis Volpi begrüßt das Publikum an diesem Vormittag nur kurz, bevor er das Mikrofon an John Neumeier weiterreicht. „Ich bin wieder hier!“ verkündet dieser strahlend und übernimmt die Moderation der Werkstatt wie hunderte Male zuvor.

15 Jahre war Neumeier alt, als er Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ erstmalig las – also ungefähr in Tadzios Alter. An der Novelle faszinierte ihn seinerzeit sowohl das Mystische als auch das Mythische. Viele Jahre später sah er Luchino Viscontis berühmten Film, der seine besondere Atmosphäre erhält durch Gustav Mahlers „Adagietto“ aus der 5. Sinfonie. Dass er nicht Mahler für seine Choreografie wählen würde, war Neumeier von Anfang an klar. Zu Aschenbach als einem sehr rationalen Künstler passe Musik von Bach, so Neumeier, um eine „Aschenbach-Strenge“ zu erreichen.

Eine merkwürdige Begegnung auf einem Friedhof weckt in Aschenbach Fernweh, und – ebenso spontan wie untypisch für ihn – entscheidet er sich, nach Venedig zu reisen. Dort sieht er diesen wunderschönen Jungen, den er wie eine Statue bewundernd anschaut, in dessen Nähe er sich beflügelt fühlt, so dass er sich schließlich eingesteht, dass er ihn liebt. Diese Liebe sei weniger erotisch, sondern eher „Caritas“, eine sich kümmernde Liebe, englisch „to care“.

Bei Thomas Mann ist Aschenbach ein Literat, bei Visconti ein Komponist und bei Neumeier folgerichtig ein Choreograf, der an einem Ballett über Friedrich den Großen arbeitet. Ihn beherrscht die Angst, dass er irgendwann nicht mehr kann, dass er „austrocknet“. In der Szene, in der seine choreografischen Versuche nicht gelingen, sehen wir Christopher Evans als Aschenbach, Ida Praetorius als seine Assistentin und Alessandro Frola in der Rolle Friedrich des Großen.

John Neumeier verwarf Bachs „Kunst der Fuge“ zugunsten der Komposition „Das Musikalische Opfer“, die drei Jahre vor Bachs Tod entstand. Bach komponierte rückwärts, d. h. er wiederholte eine Tonfolge vom Ende zu deren Anfang. Dieses Prinzip wendet auch John Neumeier in einer Sequenz seiner Choreografie an und ließ in der Werkstatt demonstrieren, wie eine Passage aussieht, die erst vor- und anschließend rückwärts getanzt wird, was selbst für geübte Augen nicht leicht nachzuvollziehen ist.

Aschenbach – nun verkörpert von Edvin Revazov – arbeitet mit und an seinen Konzepten, Silvia Azzoni und Alexandre Riabko. Doch das von ihm kreierte Pas de deux – das eigentlich ein Pas de trois ist, da Aschenbach ja mit seinen Konzepten tanzt – bleibt kalt, den Bewegungen fehlt etwas.

Im zweiten Akt ist Aschenbach am Lido in Venedig. „A new light is shining through“, kommentiert Neumeier die veränderte Situation. Bei der nächsten Probe mit seinen Konzepten ist der Choreograf deutlich inspirierter. Um die Ursache auch fürs Publikum sehr klar zu machen, unterbricht Neumeier und bittet Caspar Sasse als Tadzio zu lächeln. Plötzlich wird das von Aschenbach zu kreierende Pas de deux lebendig und innig. Der Mensch Aschenbach entwickelt sich, er lässt das Dionysische in sein Leben, in dem bisher das apollinische Prinzip dominierte. Musikalisch wird diese andere Welt durch Werke von Richard Wagner repräsentiert. Für Thomas Mann war Richard Wagner eine Art Modell für die Figur des Aschenbach, Wagners Autobiografie „Mein Leben“ erschien 1911, und Thomas Mann arbeitete an einem Text über Wagner, während er sich – übrigens mit seiner Frau – in Venedig aufhielt. Die Manns logierten im Hôtel des Bains, und auch Tadzio samt seiner polnischen Familie war damals dort zu Gast.

Man könne den Eindruck bekommen, so Neumeier, Frauen kämen nicht vor in der Novelle. Doch wenn man genau liest, spielen sowohl Tadzios Mutter als auch die Mutter von Aschenbach eine wichtige Rolle. Diese beiden Charaktere und die Rolle der Assistentin werden bei Neumeier von der gleichen Tänzerin verkörpert, denn alle Drei verbindet eine fürsorgende Haltung.

Von Vaslaw Nijinsky existiert ein Gemälde, auf dem er in einer roten Badehose zu sehen ist; dies war Anlass, Tadzio in der Strandszene in einer ebensolchen roten Hose zu zeigen. Tadzio stellt Aschenbachs Welt auf den Kopf. Das macht Neumeier deutlich in der Szene, als der Junge dem Mann nach einem Sturz wieder auf die Beine hilft: Zwischen Handreichung und Ankommen in der Senkrechten liegt ein Pas de deux, der nur in Aschenbachs Kopf oder seiner Seele stattfindet.

[Dagmar Ellen Fischer]