Marcelino Libao, ehemaliger Gruppentänzer im Hamburg Ballett, im Gespräch mit
Timm Berkefeld

Du bist auf den Philippinen geboren. Wann bist du dort mit Tanz in Berührung gekommen, und
wie kam es dazu, dass du mit Ballett angefangen hast?
Ich bin in einer tanzbegeisterten Familie aufgewachsen. Mein Vater war damals ein professioneller
Volkstänzer. Als meine Geschwister und ich aufwuchsen, waren wir dem Tanz also sehr ausgesetzt
und hatten Freunde in der Familie, die alle mit dem Tanzen verbunden sind. Daher wurde ich in
jungen Jahren in einer Tanzschule eingeschrieben.
War es schon immer dein Wunsch, Tänzer zu werden? Wie kam es dazu, dass du nach Hamburg
gekommen bist?
Ich wusste bereits im Alter von zwei Jahren, dass ich nur tanzen wollte, da ich nie Spielzeug
wollte. Meine Lieblingsbeschäftigung war es, ständig und überall zu tanzen. Im Alter von neun
Jahren wurde mir ein Stipendium im Steps Dance Studio in Manila angeboten, das mir endlich die
Möglichkeit gab, klassisches Ballett zu lernen und professionell ausgebildet zu werden. Und als ich
14 Jahre alt war und YouTube noch in den Kinderschuhen steckte, erfuhr ich vom Wettbewerb
namens „Prix de Lausanne“, und ich drängte meinen Lehrer, mich für diesen Wettbewerb zu
trainieren und hoffentlich ein Stipendium angeboten zu bekommen. Es hat geklappt.
Die Ballettschule John Neumeier gehört zu den renommiertesten Ballettschulen der Welt. Wie
kommt man zu einem der begehrten wenigen Plätze in der Schule? Macht man eine
Aufnahmeprüfung? Wird man eingeladen?
2008, im Alter von 15 Jahren, war ich der jüngste Teilnehmer, der in diesem Jahr am „Prix de
Lausanne“ teilnahm und der allererste Filipino, der jemals an dem Wettbewerb teilnahm und es
bis ins Finale schaffte. John Neumeier war Juryvorsitzender, und kaum war der Vorhang gefallen,
wurde mir von John persönlich ein Stipendium an der Schule des Hamburg Balletts angeboten.
Nach deinem Abschluss an der Schule bist du direkt in die Kompanie übernommen worden. War
es dein Traum, beim Hamburg Ballett zu tanzen?
Als ich am „Prix de Lausanne“ teilgenommen habe, war das mein allererster Kontakt mit der Welt
von John Neumeier. Ich lernte eine Variation für meine zeitgenössische Prüfung, „Yondering“, und
als ich diesen Tanz lernte, veränderte sich mein Leben. Ich hatte das Glück, dass während des
Finals eine kleine Galavorstellung stattfand, bei der ich u. a. Teile aus „Yondering“ sehen durfte:

Ich sah ein paar Pas de deux‘ aus dem Neumeier-Repertoire, aufgeführt vom Hamburg Ballett,
wie „Opus 100“ und das Adagietto aus Mahlers Fünfter Sinfonie. Diese Aufführung ließ mich
streben und träumen und hat mich dazu herausgefordert, alles zu tun, um ins Hamburg Ballett
aufgenommen zu werden. Ich wollte so sehr einer dieser Künstler sein, die ich sah. Ich sagte mir:
„DAS ist Ballett.“
Von 2010 bis 2021 warst du Mitglied der Kompanie. Hast du besondere Erinnerungen, besondere
Highlights? Du hast viele Rollen aus dem umfangreichen Repertoire getanzt, hast du eine
Lieblingsrolle? Welche Rolle hättest du gern noch getanzt, zu der es nicht mehr kam?
Jedes Mal, wenn ich im Studio war, um mit John zu kreieren, fühlte es sich für mich immer wie
ein Highlight an. Wenn Kreativität im Raum ist, werde ich sehr glücklich, als würde jemand meine
Seele füttern. Mein absoluter Favorit war John Neumeiers „Turangalila“-Kreation. Einer seiner
Solisten in diesem Ballett zu sein, hat mich so stolz gemacht. Das war mein Traum, und er geschah
direkt vor meinen Augen. Diese Momente werde ich sicher nie vergessen. Rollen, die ich gerne
gespielt hätte, die aber nie verwirklicht wurden, sind Armand („Die Kameliendame“) und Nijinsky.
Das sind wirklich zwei Traumrollen, von denen ich wünschte, ich hätte die Chance gehabt, gecastet
zu sein und sie auf der Bühne darzustellen.
Irgendwann hast du beschlossen, das Hamburg Ballett zu verlassen und eine andere Kompanie
zu suchen. Was war dafür der Auslöser?
Ich liebe es zu spielen. Ich liebe es, Rollen neu anzugehen. Wichtige Rollen. Ich liebe es, ein
Künstler zu sein. Ich habe oft wirklich das Gefühl gehabt, dass ich bestimmte Rollen spielen und
tanzen kann, oder an denen ich arbeiten kann und die mich herausfordern würden, weil ich es
liebte, diese Rollen mit Leben zu füllen. Wenn diese Rollen aber nicht durch mich erfüllt werden
sollten, wusste ich, dass es für mich an der Zeit war, mich hinauszuwagen und anderswo zu
wachsen, wo ich an mich selbst, an mein Talent und meine Fähigkeiten glauben kann. Und ich
wusste, dass es da draußen eine große Welt mit endlosen Möglichkeiten gibt.
Du hast dich für einen Wechsel zum Leipziger Ballett entschieden. Warum? Deine
Traumkompanie? Eine gute Entscheidung?
Die Pandemie war für uns alle schwer, aber ich hatte das Glück, dass mir ein Platz in einer
Kompanie angeboten wurde, ohne dass ich persönlich vorgetanzt hatte, es war eine reine Video-
Präsentation. Ich wollte so sehr die Veränderung, dass ich mir sagte, ich werde es versuchen. Seit
ich in Leipzig angefangen habe, habe ich nie zurückgeblickt.
Auch in Leipzig tanzt du große Rollen, wie z. B. Faust. Gibt es Unterschiede in der Kreation von
Rollen zwischen Hamburg und Leipzig? Welche?
Bei Handlungsballetten habe ich nicht unbedingt das Gefühl, dass es Unterschiede gibt, da man
wie ein Schauspieler mit verschiedenen Regisseuren am selben Stück arbeiten kann. Wenn man
seine Rolle gut genug kennt, kann man sie auf viele unterschiedliche Arten spielen, aber Romeo
wird immer ein Romeo in einem Shakespeare-Stück sein. Der einzige Unterschied, den ich sehe,
ist der Tanzstil der Choreografen. Aber jeder Choreograf, der sich mit einem Handlungsballett
beschäftigt, hat definitiv Ähnlichkeiten bei der Festlegung der Dramaturgie.
Faust ist eine Rolle, mit der jeder etwas anfangen kann. Jeder kennt Goethes Werk. Wie hast du
dich auf diese Rolle vorbereitet?
Ich hatte ungefähr vier Wochen Zeit, um mich auf die Rolle des Faust vorzubereiten, nachdem ich
wusste, dass ich besetzt bin. Also habe ich sofort das Buch gelesen, ein paar Filme, Theaterstücke
und Opern gesehen. Ich fühlte mich innerlich sehr mit Faust verbunden, aber mich wie ein älterer
Mann zu verhalten und auszusehen, war etwas, worüber ich wirklich nachdenken und an mir
arbeiten musste. Ich ging z. B. in Supermärkte und ahmte buchstäblich ältere Menschen nach,
wie sie gehen, Dinge aufheben, sich in der Öffentlichkeit verhalten und sich mit Fremden
unterhalten. Es war nicht einfach, aber ich denke, es hat sich gelohnt, da ich nach der Aufführung
einige Male vom Publikum gefragt wurde: „Warum hat sich der ältere Faust nicht verbeugt?“ Sie
konnten nicht glauben, dass ich der ältere Faust war.
In vielen großen Kompanien lebt noch der alte Geist ihrer großen Choreografen, wie z. B. Cranko
in Stuttgart oder Nurejew in Paris. Lebt in Leipzig noch der Geist von Uwe Scholz? Wenn ja, woran
merkt man das?

Uwe ist auf jeden Fall immer noch da, überall in der Oper Leipzig. Man spürt ihn einfach durch die
Mitarbeiter, die immer noch da sind und während seiner gesamten Karriere mit Uwe
zusammengearbeitet haben, und man kann sehen, wie sie sein Lebenswerk wirklich respektieren.
Die Geschichten leben bis heute, und seine Ballette sind bis heute zu sehen. Und jedes Mal, wenn
ich an seinem Repertoire arbeite, fühle ich mich glücklich und wünschte mir sehr, ich würde in der
Zeit leben, in der ich mit ihm arbeiten könnte, da er wirklich eine tadellose Musikalität hatte.
Du wirst dieses Jahr 30 Jahre alt, eine Tänzerkarriere ist leider zeitlich begrenzt. Hast du Pläne
für die Zeit nach deiner aktiven Karriere?
Ich denke, ich werde mich an die Choreografie wagen. Ich fange hier und da schon an, aber ich
würde das gerne Vollzeit machen.
Mit dir bringt man auch sofort das „House of Brownies“ in Verbindung. Erzähl uns etwas darüber.
Was ist das, was macht ihr, was sind eure Ziele?
„The House of Brownies“ ist ein Kollektiv von Künstlern mit queeren Körpern, die sich als BIPoC
(schwarze, indigene, farbige Menschen) identifizieren und stolz darauf sind, die LGBTQIA+-
Community in den Medien Tanz, Film, Musik, Fotografie, Mode und bildender Kunst zu
repräsentieren. Unser Ziel ist es, „Queerdom“ zu repräsentieren, Aktivisten zu sein und das
auszuleben und in den Köpfen der Menschen zu verbreiten. In von Weißen dominierten, staatlich
finanzierten Theatern oder Orten wird das normalerweise nicht gut repräsentiert, unterstützt oder
akzeptiert.
Am Ende noch ein paar kurze Fragen, antworte gern ganz spontan mit nur einem Satz:
Was ist dein Traum vom Glück?
In einer Welt zu leben, in der jeder so akzeptiert wird, wie er ist.
Wo siehst du dich in 10 Jahren, wo in 20 Jahren?
In 10 Jahren möchte ich abendfüllende Ballette mit großen Kompanien kreieren. In 20 Jahren
möchte ich in einem kleinen Strandhaus auf den Philippinen leben.
Wie sieht ein perfekter Tag aus?
Der Tag ist perfekt, wenn ich das Lächeln meiner Freunde sehe.
Gibt es für dich noch eine andere Leidenschaft außer dem Tanzen?
Ich gebe gern etwas zurück und helfe anderen.
Danke für das Interview, lieber Marcelino!