Ein fröhlicher John Neumeier begrüßt am Sonntagvormittag sein Publikum zur „ersten Ballett-
Werkstatt seit einem Jahr und acht Monaten!“ Und er erinnert sich wehmütig: „Am 31. Januar
2020 fand die letzte Vorstellung des Hamburg Ballett vor vollem Haus statt.“ Im Februar stand
ein Gastspiel in Venedig auf dem Programm, und nach der Rückkehr habe sich das Ensemble
gleich in die Hamlet-Proben gestürzt. Doch dann kam am Freitag, dem 13. März 2020, der
Lockdown … Insofern musste auch Hamlet unter der Pandemie leiden.
John Neumeiers Beschäftigung mit dem Hamlet-Stoff geht zurück auf das Jahr 1975. Anlässlich
der ersten Hamburger Ballett-Tage kam damals Michail Baryschnikow als Gast zur ersten
Nijinsky-Gala nach Hamburg. Noch relativ neu im Westen, „wollte er alles haben, mit allen
arbeiten – er war wie ein Kind im Süßigkeitenladen“, erzählt Neumeier. So entstand die Idee
zu „Hamlet Connotations“ mit Baryschnikow in der Titelrolle sowie Erik Bruhn, William Carter,
Marcia Haydée und Gelsey Kirkland, uraufgeführt am 6. Januar 1976 in New York City zu Musik
von Aaron Copland. „Es begann mit der Leiche, jeder sollte über die Leiche steigen. Hamlet
weigert sich, steigt dann aber doch über sie – und die greift nach ihm.“ Diese Szene übernahm
John Neumeier auch in seine aktuelle, sechste Fassung seines Balletts. Jede folgende Version
hatte etwas von der vorherigen. Ausgehend von der Beziehung zwischen Hamlet und seinem
verstorbenen Vater, geht es dem Choreografen um eine Verantwortung für die Vergangenheit
als Grundidee.
Kurze Zeit nach der Uraufführung von „Hamlet Connotations“ mit dem American Ballet Theatre
avancierte Marcia Haydée zur Direktorin des Stuttgarter Ballett, und für diese Company bat sie
Neumeier um die Choreografie „Der Fall Hamlet“. 1985 wollte dann Frank Anderson für die
Wiedereröffnung des Königlich-Dänischen Balletts in Kopenhagen ebenfalls ein Neumeier-Werk
über den unglücklichen dänischen Prinzen: Für „Amled“ beschäftigte sich der Choreograf mit
der Vorgeschichte, studierte Chroniken und integrierte den Konflikt der Brüder Fenger und
Horvendel samt der kriegerischen Wikinger-Zeit. Margrethe II., Dänemarks Königin,
kommentierte die Fassung mit den Worten, das Ballett habe „etwas zu viel Geschichte“,
erinnert sich Neumeier lächelnd. Folglich ließ der Choreograf die Wikinger wieder
verschwinden.
Einen weiteren Aspekt stellt Neumeier in seiner Auseinandersetzung mit dem Stoff heraus: die
Beziehung zwischen Hamlet und Ophelia. Er versuchte sich vorzustellen, ob sie wohl zu Beginn
einmal unbelastet gewesen war und kommt zu dem Schluss, dass sie vermutlich von Anfang
an überschattet war vom Tod von Hamlets Vater. William Shakespeare ist für den
Choreografen eine ergiebige Quelle der Inspiration, denn „seine Charaktere und die
dramatischen Situationen gehen sehr viel tiefer als Worte“, so John Neumeier.
Kleiner Exkurs: Manchmal treibt es ihn auf der Suche nach Tanzbildern recht weit weg vom
Shakespeare’schen Original. Den weitesten Weg legte „Othello“ zurück, vermutet Neumeier,
und er zieht das Beispiel der Figur Jago heran: „Ich kann nicht ins Programmheft schreiben
‚Jago ist böse’! Seine enorme Boshaftigkeit zeigt sich in der Art, wie er Emilia quält.“ Die
Szene, in der Jago abgezählte Schritte unterschiedlicher Länge erst für sich selbst exerziert,
bevor er seine Frau Emilia zur Nachahmung nötigt, ist von bezwingender Wirkung.
Das Material zu Hamlet füllt ganze Bibliotheken, und John Neumeier hat Sekundärliteratur und
filmische Quellen gründlich studiert. Trotzdem bleiben Fragen: Ist Hamlet wahnsinnig, oder tut
er nur so? Besteht eine inzestuöse Beziehung zu seiner Mutter? „Hamlet 21“ markiert einen
Neuanfang in John Neumeiers Bearbeitung des komplexen Stoffes, und deshalb erweiterte er
seine jüngste Version um eine Rahmenhandlung, in der Hamlet zur Schule geht und von
Polonius unterrichtet wird. Doch während Latein gelehrt wird, tauchen drei Gaukler auf und
verwickeln Hamlet in ihren Tanz. Neu ist auch die Musik: Im 21. Jahrhundert tanzt das
Hamburg Ballett zu Kompositionen von Michael Tippett.
Dagmar Ellen Fischer