Wiederaufnahme „Sylvia“ zur Spielzeiteröffnung am 5. September 2021

Mit dem typischen zischenden Geräusch sausen Pfeile durch die Luft und landen mit lautem
Knall auf einer großen Zielscheibe, mitten auf der Bühne. Woher sie kommen, bleibt ein
Geheimnis: Die allmählich auftretenden Tänzerinnen tragen zwar einen Bogen bei sich und
spannen diesen, schießen aber definitiv keine Pfeile ab. Mit diesem verblüffenden
Überraschungseffekt beginnt das Ballett „Sylvia“. Nach zehn Jahren Pause kommt es zurück
auf den Spielplan des Hamburg Ballett.

Nach und nach entern neun Jägerinnen die Bühne. Die jungen Frauen gehören zur Gefolgschaft
von Diana, der griechischen Göttin der Jagd und des Mondes. Mit dieser Zugehörigkeit haben
sie sich zu Keuschheit verpflichtet, einem Dasein im Kloster ähnlich. Sylvia ist eine von ihnen,
sie gilt als beste Jägerin und Liebling der Göttin. Als Zeichen der besonderen Wertschätzung
erhält Sylvia einen Bogen von ihr, diese Anerkennung macht sie stolz und glücklich.
Gelegentlich zeigt sich die Göttin ihren Anhängerinnen in dem magischen Wald, und dann
verbinden sich alle mit einer verschwörerischen Geste: Jede darf die Hand der Göttin für einen
Moment berühren.

Vom jungfräulichen Dasein der Waldbewohnerinnen angezogen, verirren sich bisweilen
neugierige Herren in die männerfreie Zone. Der Schäfer Aminta zum Beispiel, ängstlich und
fasziniert zugleich, beobachtet er Sylvia – und verliebt sich. Vorsichtig nähert er sich ihr, als
sie allein im Wald das Bogenschießen übt, und tatsächlich lässt sie sich auf das ihr fremde,
männliche Wesen ein. Doch sobald ihre Gefährtinnen zurückkommen, fühlt sie sich ertappt und
verleugnet ihre Zuneigung für Aminta.

Schon der erste Auftritt von Madoka Sugai in der Titelrolle ist sensationell: Als kraftvolle und
energiegeladene Kämpferin lässt sie keinen Zweifel an ihrer Bestimmung, ihr Leben ist der
Göttin Diana geweiht. Beinahe maskulin wirken ihre Gesten, wenn sie den Bogen anlegt, zielt
und schießt. Unmittelbar nach der ersten Begegnung mit Aminta aber verändern sich ihre
Bewegungen, da er ihre Weiblichkeit hervor lockt. Wie nuanciert und langsam die Erste Solistin
Madoka Sugai diesen innerlichen Prozess durch behutsames Aufweichen ihrer zuvor harten
Staccato-Bewegungen verdeutlicht, ist atemberaubend. Als Partner ist Alexandr Trusch in der
Rolle des Aminta das denkbar beste Gegenüber, da auch seine Rollengestaltung
hochdifferenziert ist. Dass beide auf tänzerisch höchstem Niveau makellos agieren, verbindet
sie auf einer weiteren Ebene.

Und Sylvias Verwandlung geht weiter: Nach einem Bad im See des Waldes will sie sich wieder
ihrem vertrauten Jagd- und Kampftraining widmen, doch die Handhabung verrät, dass sie
nichts (mehr) damit anzufangen weiß. Als sie glaubt, zur kämpferischen Gewohnheit
zurückzufinden, legt sich Gott Eros ihr in den Weg und nimmt ihr den Bogen ab: Christopher
Evans tanzt sowohl den Liebesgott als auch einen ihrer weiteren Verehrer – beides ist an
dieser Stelle schlüssig.

Nach der Pause – stückimmanent sind einige Jahre vergangen – führt Sylvia ein anderes Leben
fernab von Wald und Natur, inklusive gesellschaftlichen Verpflichtungen; doch die
Erinnerungen an Aminta und Diana holen sie zeitweise wieder ein. Viele Jahre später begegnen
sich die beiden Liebenden ein weiteres und letztes Mal, beide sind nun nicht mehr jung; ihr
vertrauensvoller Pas de deux erzählt immer noch von großen Gefühlen – doch es ist zu spät.

John Neumeier verortet seine Version nicht zwingend in der griechischen Mythologie, die
jungen Frauen können ebenso gut einer Gruppe von Sportlerinnen angehören, die sich der
Kunst des Bogenschießens verschrieben haben. In Madoka Sugais Darstellung ist sowohl Raum
für die griechische Nymphe der Antike, wie es das Original-Ballett aus dem 19. Jahrhundert
vorsieht, als auch für eine heutige Kampfsportlerin. Den Konflikt zwischen einem Gelübde und
plötzlich entdeckter Leidenschaft vermittelt sie mit ihrer Körpersprache hautnah. Wie so oft,
eröffnet die Interpretation durch eine neue (Titelrollen)Besetzung andere und zusätzliche
Nuancen in der Deutung.

Dagmar Ellen Fischer