Die erste Ballett-Werkstatt der aktuellen Spielzeit war zugleich die 238. „aller Zeiten“, wie John Neumeier zur Begrüßung zählte. Sie trug den Titel „Immer wieder Nijinsky“, denn das Meisterwerk
steht Ende des Monats in neuer Besetzung erneut auf dem Spielplan des Hamburg Ballett.
Wohlwissend, dass er Nijinsky schon mehrfach in Ballett-Werkstätten thematisierte, möchte der Choreograf dem Publikum dennoch gern besondere Aspekte über „Mann und Werk“ nahebringen. Und an der Reaktion im Zuschauersaal ist ablesbar, dass seine Erläuterungen für einige neu sind.
Tanz kannte der jugendliche John aus Filmen, ebenso wie ein Gefühl, zu dieser Welt dazuzugehören. Mit vier Büchern konnte die örtliche Bibliothek aufwarten, darunter auch „The
Tragedy of Nijinsky“, verfasst von einem Klassenkameraden Nijinskys aus der gemeinsamen Zeit an der Kaiserlichen Ballettakademie in St. Petersburg. Das Buch faszinierte John Neumeier sehr,
und so las er sogar in der Schule während der Pausen. Warum einer seiner Lehrer ihm damals von dieser Lektüre abriet, ist ihm bis heute unerklärlich.
Dieses Buch legte den Grundstein für Neumeiers lebenslange Beschäftigung mit Vaslav Nijinsky: „Es war der Samen, der Wurzeln geschlagen hat“, und seither folgte die Anschaffung zahlreicher
Veröffentlichungen und Kunstwerke zur Person des legendären Künstlers, die sich heute in der Sammlung John Neumeiers befinden.
Der Choreograf erinnert sich an die Zeit der Entstehung dieses Balletts, das im Jahr 2000 uraufgeführt wurde. So lange hatte er sich mit der Person und dem Lebensweg Nijinskys befasst, dass es ihm schwerfiel, für seine Choreografie die richtige Form zu finden. Er beschloss, „ein Puzzle zu machen“, das Ganze in Teilen zu denken, „aber was könnte der Klebstoff sein?“ Musik war von jeher Neumeiers „engster Partner“, und als er auf Schostakowitsch stieß, war die Entscheidung gefallen. „Ich habe jede Note dieses Komponisten gehört“, so Neumeier, doch es konnte nicht ausschließlich Schostakowitsch sein, dafür war dessen Musik zu dunkel. Letztlich
wollte er die Innen- und Außenwelt dieses „ersten Superstars des Balletts im 20. Jahrhundert“ zeigen, keine Biografie für die Bühne kreieren.
Als die „Ballets Russes“ mit ihren Gastspielen in Paris ab 1909 die westliche Ballettwelt erschütterten, war das Publikum fasziniert von der Exotik, dem Farbenrausch und den ungewöhnlichen Bewegungen. 1910 beispielsweise stand „Scheherazade“ auf dem Programm, in dem Nijinsky die Rolle des Goldenen Sklaven tanzte. Beim Stichwort „Scheherazade“ fällt John Neumeier eine Anekdote aus seiner Zeit als Schauspielstudent ein: In der Geschichte aus 1001 Nacht spielte er einen jener Soldaten, die in die Orgie aus Haremsdamen und Sklaven einfallen und die untreuen Frauen töten müssen; John Neumeier hatte nach der Stanislawski-Methode zuvor mental den Soldaten in sich gefunden, enterte mit einem Schwert die Bühne und stand vor einer der Damen, die ihm ein „kill me“ entgegen schmachtete – das Publikum in der Oper lacht und klatscht.
Anlässlich jener Inszenierung lernte Neumeier seinerzeit die Musik Rimskij-Korsakows kennen,
die ebenso Eingang in seine Nijinsky-Choreografie fand. Doch zum zentralen musikalischen Partner wird Schostakowitschs „Sinfonie Nr. 11“, die zwar 1957 uraufgeführt wurde, indes den
Untertitel „Das Jahr 1905“ trägt und damit auf den Bauernaufstand verweist, den russische Soldaten blutig niederschlugen, indem sie vor dem Winterpalais auf das eigene Volk schossen.
Nicht nur von Vaslav, auch von dessen zwei Jahre älterem Bruder Stanislav war Neumeier fasziniert. Während das Hamburg Ballett die erste Szene in dieser Matinee tanzt, erläutert John
Neumeier parallel dazu seine Gedanken, die zur Choreografie führten: Aleix Martínez als Stanislav übernimmt die trommelnden Handbewegungen von der Titelfigur des Balletts „Petruschka“ als Ausdruck seines Protests. Madoka Sugai als Bronislava und Anna Laudere als Mutter der drei Nijinsky-Kinder finden sich zusammen, der Vater verließ die Familie früh. Den ersten Tanzunterricht erhielten alle Drei von ihren Eltern, die mit folkloristischen Tänzen ein unstetes Tourneeleben führten. Dass Vaslav in die Kaiserliche Ballettakademie aufgenommen wurde, bedeutete damals auch, dass er versorgt war: Langsam formieren sich die Gruppentanzpaare zu einer Klasse im Unterricht, die klassisches Training absolviert. Vaslav und seine Schwester finden sich tanzend zusammen, was sie tatsächlich häufig taten. Neumeier zitiert eine Sequenz aus dem Ballett „La Bayadère“, seinerzeit zum Repertoire gehörend, doch lässt er die wiederholten
Arabesquen aus dem Reich der Schatten nun von Männern initiieren.
Vaslav war der Beste seines Jahrgangs an der Akademie und schon bald ein begehrter Partner
auch für ältere, erfahrene Solistinnen, zu ihnen gehörten auch Tamara Karsawina, hier getanzt in
neuer Besetzung von Xue Lin, später noch einmal von Silvia Azzoni. Ida Praetorius ist die neue Besetzung der Romola. Nijinskys spätere Frau, eine Ungarin aus reichem Haus, sah den Tänzer zum ersten Mal in Budapest, als er den Harlekin in „Carnaval“ verkörperte. Sie verliebte sich – „in den Tänzer, in seine Bühnenpräsenz“, so Neumeier – und bestach den Ballettmeister der „Ballets Russes“, Enrico Cecchetti, ihr Unterricht zu geben, damit sie die Compagnie auf Gastspielen begleiten könne. Auf einer Schiffsreise nach Südamerika bewegte sie sich unter den Erste-Klasse-Passagieren, so wie auch Nijinsky, und konnte auf diese
Weise Begegnungen mit ihm provozieren. Noch während der Überfahrt machte Vaslav Nijinsky ihr einen Heiratsantrag – man fragt sich bis heute, in welcher Sprache die beiden kommuniziert haben. Diese Szene „Auf dem Schiff“ choreografierte John Neumeier zur bereits von ihm erwähnten Musik von Rimskij-Korsakow, dem 3. Satz aus dessen „Scheherazade“. Wir sahen die neue Besetzung mit Ida Praetorius als Romola, Aleix Martínez als Nijinsky und Artem Prokopchuk
in der Rolle des Fauns – also einen pas de trois, da Romola sich einer Bühnenfigur näherte, den Menschen kannte sich gar nicht. Diese Hochzeit verletzte Diaghilew tief, der bis dahin als Mentor und Liebhaber an Nijinskys Seite, aber halt nicht auf jenem Schiff anwesend war. Als sein Schützling noch zwei Vorstellungen verpasste, kündigte der Impresario seinem Tanzstar – und Nijinsky verlor seinen Halt. „Tänzer
müssen zu einer Gruppe gehören!“ Sergei Diaghilew und Nijinsky trafen sich noch zwei Mal, doch
zu einer wirklichen Versöhnung kam es nicht mehr.
Während des Ersten Weltkriegs wählte Romola die neutrale Schweiz als Aufenthaltsort, schnitt ihren Mann jedoch damit von der internationalen Tanzwelt ab. Das war umso tragischer, da zuvor ein Versuch Nijinskys, eine eigene Compagnie auf die Beine zu stellen, gescheitert war. John Neumeier referiert, dass in einem Bericht des Nijinsky behandelnden Arztes folgende Ursachen für den bei ihm ausbrechenden Wahnsinn genannt werden: 1. Als Tänzer konnte seine Kunst nicht mehr ausüben; 2. die vermutete Untreue seiner Frau; 3. Nachrichten von den Gräueln des Ersten
Weltkriegs; ergänzt um eine wahrscheinliche genetische Veranlagung.
John Neumeiers Ballett „Nijinsky“ beginnt mit dem Ende der Tanzkarriere, mit dem letzten Auftritt im Suvretta House, einem Hotel in St. Moritz. 1999 sei er dorthin gereist, berichtet Neumeier, er habe in jenem Saal des letzten Auftritts gestanden, jeden Winkel fotografiert und das Bühnenbild
für diese Szene originalgetreu nachbauen lassen. Seine Vorstellung hatte der Tänzer damals angekündigt mit den Worten: „Heute tanze ich meine Hochzeit mit Gott!“ Aleix Martínez tanzt das Solo, mit dem Nijinsky damals für Befremdung beim Publikum sorgte, mit großer Ausdruckskraft.
Und da er gemerkt hatte, dass seine Zuschauer irritiert waren, schloss er etwas Lustiges an. Neumeiers Choreografie geht über in einen Tanz des Harlekins und in Erinnerungen an Tänze aus der Kindheit: einen Seemannstanz, den Nijinsky mit seinen Geschwistern aufgeführt hatte.
Berühmte Rollen tauchen auf, so „Le Spectre de la Rose“ (Christopher Evans) und der „Goldene Sklave“ (Karen Azatyan). Zur neuen Besetzung gehören auch Ida Stempelmann als Bronislava Nijinska und Matias Oberlin als Diaghilew; dessen Zuneigung gehört inzwischen seiner nächsten
Entdeckung Leonide Massine, getanzt von Illia Zakrevskyi. Diese Gruppe strahlt in der „Jeux“ betitelten Szene, benannt nach einer Choreografie Nijinskys, die Dreiecksbeziehungen mit sportlicher sowie erotischer Konnotation thematisiert.
Das Finale dieser Matinee zeigt Louis Musin als neuen Stanislav, der ob seiner Krankheit kollabiert. Dem Zusammenbruch folgt ein Bruch in der Musik, der wiederum den Kriegsausbruch signalisiert. John Neumeiers Choreografie zur Gänsehaut erzeugenden Musik (2. Satz der Sinfonie Nr. 11)
entlässt das Publikum nach zwei Stunden getröstet in eine Welt, die auch von Krieg bedroht ist.