Für die Menschen im Zuschauerraum der Hamburgischen Staatsoper ist es offensichtlich: Beim Hamburg Ballett hat eine neue Ära begonnen. Die zweite Premiere unter dem Intendanten Demis Volpi setzt andere Maßstäbe – und begeisterte das Publikum.
„Slow Burn“ (langsames Brennen) klingt wie ein Angebot: Vom Hamburger Publikum erhofft sich Volpi keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eine langsam sich entwickelnde Zuneigung, die stetig an Tiefe gewinnt. Um das zu erreichen, waren die beiden gezeigten Werke perfekt: Die kanadische Choreografin Azure Barton übernahm den vorgegebenen Titel des Abends sogar für ihre mit dem Ensemble entwickelte Uraufführung, und William Forsythes „Blake Works V (The Barre Project)“ ist ebenfalls kein Stück, das wie der Blitz einschlägt.
Und doch hinterlassen beide Werke einen bleibenden Eindruck. Bartons „Slow Burn“ wirkt wie ein Ritual aus längst vergangener Zeit, als weise Frauen (noch?) den Ton angaben und eine Gemeinschaft anführten. Silvia Azzoni und Madoka Sugai, zwei wunderbare Erste Solistinnen, ziehen eine große Gruppe von Verbündeten in ihren Bann, verfolgen offenbar das gleiche Ziel – und bleiben sich doch in ihrem jeweils unterschiedlichen italienischen und japanischen Temperament treu. Mit dem Publikum reisen sie zurück zu den Anfängen der Menschheit, als man nur als Teil einer Gruppe überleben konnte, sich im Kreis um das lebenserhaltende Feuer versammelte – und gemeinsam tanzte! In feurigen Farben sind auch sämtliche Kostüme gestaltet: Allesamt stammen sie aus dem umfangreichen Fundus der Oper, wurden eingefärbt, umgearbeitet und für das Ensemble passend gemacht – ein wunderbares Beispiel für Nachhaltigkeit! Ambrose Akinmusires Auftragskomposition klingt wie Filmmusik und schickt Tanzende und Zuschauende durch bedrohliche und hoffnungsvolle Stimmungen.
Nach der Pause bewegt sich das Hamburger Ensemble vor allem um die Ballettstange. Entstanden ist „Blake Works V (The Barre Project)“ während der Pandemie, als Tanzprofis ihr wichtigstes Trainingsrequisit vermissten: die Stange, englisch the barre. Forsythe erfand fantastische Möglichkeiten, mit und an der Stange nicht nur routinemäßig bekannte Übungen zu absolvieren, sondern virtuos zu tanzen, ohne sich dadurch eingeschränkt zu fühlen. In rasantestem Tempo kippen, drehen, hangeln, schwingen und rutschen die TänzerInnen an der Stange entlang, lösen sich schließlich von deren Unterstützung und finden zu neuer Freiheit im Raum. Beide Werke brauchen keinerlei Bühnenbild, keine Handlung – und erzählen doch so viel Aufregendes über das Tanzen!
Dagmar Ellen Fischer