Nicht mit Tschaikowskys berühmter Musik, sondern mit lautem Donner-Grollen beginnt der
Klassiker „Dornröschen“ in Hamburg: John Neumeier erlaubt sich so manchen inszenatorischen
Eingriff in das bekannte Märchen-Ballett von Marius Petipa – und verjüngt es auf diese Weise.
Dabei geht er vor wie ein kluger Architekt: Die (Bau)Substanz im Kern lässt er bestehen, aber
ansonsten erfährt das altehrwürdige Kunstwerk eine gründliche Runderneuerung. Und die gefiel
dem Premierenpublikum am 17. Dezember 2021 sehr.
Eigentlich wollte Prinz Desiré mit seinen Freunden im Wald jagen, doch dann wird er von einem
Gewitter überrascht; plötzlich findet er eine Rose, die ihn tiefer in das verwunschene Unterholz
lockt und ihm eine längst vergangene Welt eröffnet: Durch einen Spiegel betritt er staunend ein
Schloss, in dem ein Königspaar – Edvin Revazov und Anna Laudere – eine leere Kinderwiege
betrauert. Als er die beiden begrüßen möchte, stellt er fest, dass er von ihnen nicht
wahrgenommen werden kann. Und so bleibt er auch während des folgenden Geschehens ein
unsichtbarer Gast: Er erlebt, dass sich der Kinderwunsch der Königin erfüllt und ist bei der
feierlichen Taufe der neugeborenen Aurora mittendrin – doch im Grunde nie wirklich dabei.
Während des streng nach einem Zeremoniell ablaufenden Festes erklettert er eine Brüstung und
schaut dem Treiben zu. Schon seine Kleidung macht ihn zum Außenseiter, denn die adelige
Festgesellschaft tanzt in Kostümen des 19. Jahrhunderts, er aber in Jeans und dunklem Hemd.
„Ein Prinz von heute spricht eine gegenwärtige choreografische Sprache – Aurora aber die
Sprache Petipas,“ so John Neumeier.
Von den insgesamt 56 musikalischen Sequenzen in zwei Akten (plus Prolog und Epilog) gehen in
John Neumeiers Neufassung 24 noch auf die traditionelle Choreografie zurück, die Marius Petipa
für die Uraufführung 1890 in St. Petersburg schuf; für 26 Szenen zeichnet Neumeier
verantwortlich, und in sechs weiteren mischen sich beide choreografische Handschriften.
Auch das Böse bekommt ein anderes Gesicht. Inspiriert vom deutschen Titel des Balletts
„Dornröschen“ lässt Neumeier beide Wortteile personifizieren: der „Dorn“ als das bedrohliche
und die „Rose“ als das beschützende Element; Matias Oberlin mutiert als gefährlicher Dorn zur
lebendigen Waffe, die dem Neugeborenen den Tod im 16. Lebensjahr prophezeit, und Hélène
Bouchet verwandelt sich in eine zauberhafte Rose, die den Fluch abmildert – John Neumeier
braucht hierfür keine Feen.
Prinz Desiré schaut der jungen Aurora wie im Zeitraffer beim Aufwachsen zu: Die Sechsjährige
versucht, sich ihrem Ballettlehrer zu entziehen, direkt danach gebärdet sich die Elfjährige
eigensinnig und verwöhnt. (In diesen Rollen dürfen Mädchen der Ballettschule des Hamburg
Ballett debütieren). Es folgt die sechzehnjährige Aurora – und damit der erste Auftritt der neuen
Ersten Solistin Ida Praetorius, die seit Kurzem das Hamburg Ballett verstärkt.
Die Prinzessin im heiratsfähigen Alter umwerben vier typisierte Verehrer: ein Uniformierter, ein
Business-Mann im Anzug, ein Turban-Träger und ein verschleierter Exot. Dessen dunkelrote
Rose nimmt Aurora im Rosen-Adagio nicht an, doch der Bewerber bleibt hartnäckig – bis sich
Aurora schließlich genau an dieser Rose sticht und in ihren hundertjährigen Schlaf fällt. Als der
Verehrer seinen Schleier lüftet, kommt der Dornen-Mann aus der Taufszene zum Vorschein – ein
geschickter Kunstgriff Neumeiers. Auch in dieser Szene ist Prinz Desiré präsent, der Aurora
zunächst hebt und trägt, sie nach der Verletzung stützt und dann schier verzweifelt, weil er den
boshaften Angriff nicht verhindern konnte.
Sobald Prinz Desiré seine Aurora wachgeküsst hat, überreicht er ihr die Rose, die er als eine Art
Wegweiser zum Glück die gesamte Zeit bei sich trägt. Ab sofort gehört er dazu und ist für alle
Anwesenden sichtbar. Das Hochzeitsfest kann beginnen, doch mitten im schönsten
Glückstaumel findet sich der Prinz plötzlich wieder im Wald – hat er alles nur geträumt? Die
Antwort muss das Publikum selbst geben. Ein Mädchen, das Aurora zum Verwechseln ähnelt,
sitzt jedenfalls nicht weit von ihm auf einer Bank …
Dagmar Ellen Fischer