Zur Wiederaufnahme von „Illusionen – wie Schwanensee“

Im Mittelpunkt von John Neumeiers Klassiker-Adaption steht kein verliebter Prinz, sondern der
unglückliche König Ludwig II. von Bayern. Die Bauarbeiten an seinem bekanntesten Schloss
Neuschwanstein begannen 1869 – und waren im Jahr seines rätselhaften Todes 1886 noch nicht
fertiggestellt. Als langfristigen Aufenthaltsort hatte es der nicht nur vom Bau-Wahn geplagte
Bayern-König ohnehin nicht gedacht: Eine bewohnbare Theaterkulisse sollte es werden, gewidmet
dem von ihm so bewunderten Komponisten Richard Wagner. Diese historischen Bezüge greift das
Bühnenbild von Jürgen Rose geradezu genial auf: Ein wenig wohnlicher Raum im unfertigen
Schloss mit zum Teil abgehängten Gegenständen, der dem verhafteten König als Gefängnis dienen
muss, und ein von Gerüsten eingerahmter Innenhof, der sich – in des Königs Erinnerung – auch
in einen Ballsaal verwandeln kann. Hinzu kommt die Kulisse für eine Aufführung des Balletts
„Schwanensee“ – es ist überliefert, dass Ludwig II. mitunter allein im Zuschauerraum seines
Privattheaters saß und sich Vorstellungen zeigen ließ.
Alexandr Trusch glänzt als brillanter Erster Solist tanztechnisch, doch gelingt es ihm auch, durch
feinste Nuance in Mimik und Gestik die Zerrissenheit des Märchenkönigs glaubhaft dazustellen.
Seine Partnerin Madoka Sugai in der Rolle der Verlobten des Königs verfügt über eine ebenso
großartige Fähigkeit, Technik auf höchstem Niveau mit einem differenzierten Einsatz ihrer
Körpersprache zu verbinden und so ihrer Prinzessin Nathalia mit schauspielerischer
Differenziertheit psychologische Tiefe zu verleihen. Die Star-Ballerina Alina Cojocaru strahlt als
Schwanen-Prinzessin im nach Marius Petipa und Lew Iwanow gestalteten berühmten weißen
Schwanen-Akt, der in Neumeiers Deutung als Stück im Stück fungiert. Ludwig II. ist von der
Anmut Odettes verzaubert, was seine Verlobte dazu verleitet, beim folgenden Maskenball in einem
Schwanenkostüm zu erscheinen. Damit jedoch stürzt sie ihren Geliebten in eine noch größere
Verwirrung.
Zwischen den König und die Realität der ihn umgebenden Welt schiebt sich nach und nach eine
Figur, die der Choreograf den „Mann im Schatten“ nennt, eine dunkel gekleidete Gestalt. David
Rodriguez verkörpert das personifizierte Todessymbol mit bedrohlich überzeugender Präsenz,
dem Ludwig II. zunächst auszuweichen versucht. Doch im Finale ergibt er sich dem Zugriff des
Schattenmannes und somit in sein Schicksal: Nachdem er unter einer riesigen blauen Stoff-Welle
begraben wird, trägt ihn die Todesgestalt beinahe liebevoll auf den Armen in eine andere Sphäre.
Während der Probe am 9. Februar hatten wir das Glück, das Finale mit der letzten Begegnung
zwischen König und Prinzessin sowie den folgenden Untergang einmal in der oben genannten
Besetzung zu sehen und direkt im Anschluss mit Edvin Revazov und Ida Praetorius und somit im
direkten Aufeinander die unterschiedliche Interpretation der verschiedenen Charaktere erleben zu
können.
Danach bat John Neumeier per Mikrofon-Ansage alle Spender auf die Bühne, wo die
Schwanenschar aus 22 Tänzerinnen wartete. Alina Cojocaru rief dem nur zögernd den
Bühnenraum betretendem Publikum ein fröhlich–einladendes „Hallo“ zu. Wie wir erfuhren, sind
durch die bislang eingegangenen Spenden erst 10 % der Finanzierung für die Anfertigung der
neuen Schwanen-Kostüme gesichert. Es ist also noch Luft nach oben, folglich freut sich das
Hamburg Ballett über weitere Geldgeber, deren Namen natürlich ebenfalls in das jeweilige Kostüm
eingenäht werden, wie Ballettbetriebsdirektor Nicolas Hartmann bestätigt.
Auf der Bühne des Opernhauses scherzte John Neumeier mit den Spendern, gab Autogramme und
stellte sich schließlich zu der Gruppe, in der sich schon Schwäne und Menschen für die Aufstellung
gemischt hatten, und Kiran West machte ein Gruppenfoto.
Dagmar Ellen Fischer