Wenn man so will, hatte die Pandemie sogar die Kraft, die Zeit anzuhalten: In diesem Sommer hätten eigentlich die 47. Hamburger Ballett-Tage stattfinden sollen. Doch aufgrund des kompletten Ausfalls im vergangenen Jahr waren nun 2021 erst die 46. zu erleben, gemäß korrekter Zählung. Entsprechend groß war die Freude bei John Neumeier und dem Hamburg Ballett, nach Monaten der Zwangspause wieder vor Publikum auftreten zu können.
Zur Eröffnung des zweiwöchigen Festivals stand „Hamlet 21“ auf dem Programm. Auch hier die korrekte Zählung: John Neumeier näherte sich damit zum sechsten Mal dieser Thematik. Dabei beruft er sich nicht allein auf die Dramen-Vorlage von William Shakespeare, sondern auch auf die Quellen des dänischen Geistlichen und Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus aus dem Hochmittelalter.
Für seinen jüngsten Zugriff wählte der Choreograf eine neue Rahmenhandlung: Die Geschichte beginnt mit dem jungen Hamlet im Klassenzimmer, der als Schüler von Polonius unterrichtet wird. Schon bald dominiert auf akustischer Ebene ein Kampf von Musik versus Latein. Hierzu ein Zitat, das ich im Rahmen meiner Beschäftigung fand und Ihnen nicht vorenthalten möchte: „Während man heutzutage vor allem ins Theater geht, um ein Stück zu sehen — ein deutlicher Akzent also auf dem visuellen Kommunikationskanal der Theateraufführung liegt -, beschrieb man das Theatererlebnis in der englischen frühen Neuzeit vor allem in akustischen Begriffen, so wie Hamlet dies tut, wenn er sagt: ‚We’ll hear a play tomorrow’. Die frühneuzeitliche Dominanz des Akustischen ist den vergleichsweise beschränkten Möglichkeiten hinsichtlich des Bühnenbildes, der Ausstattung und Beleuchtung des elisabethanischen Theaters geschuldet und führte zu der Praxis, fehlende visuelle Impulse durch Worte, die sogenannte Wortkulisse, zu ersetzen. Die materielle Dimension von Sprache — das Klingen oder gar Verstummen — spielt eine wichtige Rolle im Hamlet, denn neben vielen anderen Themen befasst sich das Drama auch mit den Grenzen der Sprache.“
(Quelle: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-476-00516-8?page=1)
Auch Neumeier setzt in „Hamlet 21“ hin und wieder sowohl auf gesprochene als auch auf (eine Schultafel) geschriebene Worte. Kompositionen von Michael Tippett (1905-1998) wählte der Choreograf als musikalische Begleitung seiner aktuellen Annäherung, die als Ergebnis einer 45-jährigen Beschäftigung mit dem komplexen Stoff gelten kann.
In diesem Werk bekommt auch die Vorgeschichte zum Grundkonflikt einen Raum: Hamlets Mutter Geruth wird nach dem Krieg zwischen Dänen und Norwegern mit dem siegreichen Horvendel vermählt, fühlt sich aber deutlich mehr zu dessen Bruder Fenge hingezogen. Diesen frühen Verrat an seinem Vater und schließlich den Mord an ihm rächt sein Sohn Hamlet. In der Titelrolle glänzte Alexandr Trusch, der kurzfristig für den erkrankten Edvin Revazov einsprang.
Gleich am folgenden Abend konnte das Publikum die Filmvorführung des Balletts „Ein Sommernachtstraum“ in der Staatsoper erleben. John Neumeier gestand in seiner kurzen Einführung, dass er „jedes Ballett im Anfangsstadium als Film“ sehe. Schon 1977, im Jahr der Uraufführung, gab es konkrete Pläne, dieses Werk zu filmen. Tatsächlich wurde diese Idee nun im Februar 2021 realisiert: mit sieben Kameras, Szene für Szene, in drei Tagen unter der bewährten Regie von Myriam Hoyer. Lange Zeit habe die Frage nach der Besetzung im Raum gestanden. „Die beste Besetzung“ sei nun zu sehen, so Neumeier.
Das Besondere des Filmerlebnisses sind die Nahaufnahmen: Wenn Hermia (Madoka Sugai) Lysanders (Jacopo Bellussi) Liebesbrief in ihren Händen hält, schaut die Kamera ihr unvermittelt über die Schulter – auf diese Weise kann das Publikum die kleinen gemalten Herzchen auf dem Blatt sehen. Aber auch die Schadenfreude in Pucks (Alexandr Trusch) und die Verblüffung in Zettels (Marc Jubete) Gesicht bereichern als Zoom-Momente die jeweilige Szene. Interessant ist ebenfalls ein Perspektivwechsel: Während im Vordergrund der Bühne Titania (Anna Laudere) und Oberon (Edvin Revazov) mit- und gegeneinander kämpfen, zieht im Hintergrund die siebenköpfige Handwerker-Truppe vorbei; doch plötzlich wird die Fortsetzung jener Szene aus der Kameraperspektive im Bühnenhintergrund gezeigt, somit rücken die Handwerker unerwartet zum Greifen nah in den Fokus; eine neue Sicht, die aus dem Zuschauerraum gar nicht möglich wäre. Und die Mimik der kurzsichtigen Helena (Hélène Bouchet) und des eitlen Demetrius’ (Karen Azatyan) sind allemal aus kurzer Entfernung sehenswert. Zum Ende lässt Puck die Rose fallen, mit der er so viel Unheil anrichten konnte – auch das eine passende und poetische Nahaufnahme als Schlussbild.
Wenn die Auswirkungen der Pandemie ein Gutes hatten, dann dies: Kurzfristig waren noch Karten für beide Aufführungen der Nijinsky-Gala erhältlich, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte zwei Mal am selben Tag gezeigt wurde: um 14 Uhr und um 19 Uhr! Ausnahmsweise hatte sie 2021 kein Thema, sondern war mit „Celebration“ überschrieben. „Wir feiern unser Wiedersehen“, erläuterte John Neumeier zur Begrüßung. Das Programm entstand unter Berücksichtigung bestimmter Prämissen: kein Orchester, nur Kammermusik live und ansonsten eingespielte Aufnahmen. Ferner konnten nur wenige Gasttänzer eingeladen werden, da Beschränkungen eine langfristige Reiseplanung unmöglich machten. Tatsächlich traten drei Solisten vom Königlich Dänischen Ballett aus Kopenhagen auf und Alina Cojocaru; die Starballerina, häufiger Gast in Hamburg, absolvierte an jenem Abend die erste Vorstellung nach der Geburt ihres zweiten Kindes, wie Neumeier kommentierte.
Die Eröffnung übernahm, seit seiner Gründung traditionsgemäß, das Bundesjugendballett mit der Choreografie „Einsame Verbundenheit“ von Raymond Hilbert, begleitet vom ersten Satz aus Franz Schuberts Streichquartett in c-Moll. Das Bühnenbild besteht aus drei fahrbaren Türen samt Rahmen, und John Neumeier kündigte den Auftakt wie folgt an: „In diesem Ballett gehen Türen auf. Möge das ein Omen sein!“ Isabella Vértes-Schütter rezitierte eine Textpassage aus Paolo Giordanos Roman „In Zeiten der Ansteckung“, der Erfahrungen in der Pandemie beschreibt.
Aus seinen „Balletten für Stimme und Klavier“ präsentierten Silvia Azzoni und Alexandre Riabko einen Pas de deux aus „Nocturnes“ zu Chopin-Musik: eine komplexe Beziehung, in der ein Mann mit Buch und Brille auf eine sinnliche Frau trifft – das Paar brillierte in dieser anspruchsvollen Choreografie, treibt auseinander, findet zusammen und scheut sich nicht vor dem finalen Konflikt. Aleix Martínez stellte sich in einem Ausschnitt aus „Beethoven-Projekt II“, dem Scherzo, bestens auf seine neue Partnerin ein: Ida Praetorius aus Kopenhagen. Zwei weitere Gäste des Königlich Dänischen Balletts – Astrid Elbo und Ryan Tomash – gewannen dem Liebes-Pas de deux aus „Othello“ neue Nuancen ab. In die Reihe der Duette gehörte der von Edvin Revazov und Anna Laudere getanzte Ausschnitt aus „Ghost Light“ ebenso wie die intime Begegnung zwischen Jacopo Bellussi und Alessandro Frola – für diese beiden hatte John Neumeier „Peter und Igor“ choreografiert, zu Musik des Letztgenannten, das als Uraufführung die Gala bereicherte; Inspiration waren zwei Sätze aus Strawinskys Divertimento für Klavier und Violine, in dem er Tschaikowsky zitiert.
„Im Andenken an Colleen Scott“ war der Beitrag aus John Neumeiers „Wendung“ untertitelt. Mit Hélène Bouchet im Mittelpunkt tanzten Mitglieder des Hamburg Ballett für eine ehemalige Kollegin, die im Mai dieses Jahres unerwartet verstarb. Zwanzig Spielzeiten hatte die Partnerin von Ivan Liška die Company mitgeprägt, nun erinnerte der Choreograf mit würdigenden Worten an seine Erste Solistin. Isabella Vértes-Schütter sprach das unter die Haut gehende Gedicht „Todes-Erfahrung“ von Rainer Maria Rilke, das er 1907 verfasste und mit den Worten endet „… so dass wir eine Weile hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.“
Ein großer Anteil nach der Pause gehörte einem längeren Ausschnitt aus „Die Glasmenagerie“. Alina Cojocaru überzeugte einmal mehr als berührende Interpretin jener tragischen, zentralen Figur der Laura und wurde somit virtuoser Mittelpunkt des Dramas nach Tennessee Williams. Diese Rolle des Autors übernahm in dieser Szene Ryan Tomash, Gast aus Dänemark.
George Gershwin und sein unsterblicher Musical-Song „I Got Rhythm“ sorgte für ein Highlight im besten Sinn: Madoka Sugai und Alexandr Trusch leuchteten zu dieser fröhlichen und vitalen Musik. Das Publikum genoss diesen kurzen Ausflug in überbordende Lebensfreude, nahm aber die gesamte Gala in ihrer Ausnahme-Situation durchaus bewusst wahr: Besondere Zeiten brauchen eben besondere Bedingungen.
Im Finale verabschiedete sich das Ensemble des Hamburg Ballett mit einem repräsentativen Ausschnitt aus „Ghost Light“, live begleitet vom Pianisten Michal Bialk.
Nach der knapp dreistündigen Werkschau des Choreografen John Neumeier entließ die diesjährige Nijinsky-Gala ein begeistertes Publikum in die Sommerpause.
Dagmar Ellen Fischer